«Unglaublich, dass alles so aufgegangen ist»
3. Januar 2024. Dieses Datum löst bei Alina Müller grosse Vorfreude aus. Denn an diesem Mittwoch startet ihr Team, Boston, in die neu gegründete Professional Women's Hockey League (PWHL), die sechs Mannschaften umfasst. Gegner ist vor heimischem Publikum Minnesota.
Rückblende. 30. Juni 2013, Newark, New Jersey. Alina Müller sitzt im Prudential Center anlässlich des alljährlich durchgeführten NHL-Drafts. Ihr Bruder Mirco, aktuell beim HC Lugano tätig, wird von den San Jose Sharks als Nummer 18 gewählt. Sie verspürt nicht nur Stolz, sondern auch den Wunsch, das selber einmal erleben zu dürfen. Wirklich daran glauben tut sie allerdings nicht, zu weit weg ist dieser Traum damals, was nicht mangelndem Talent, sondern dem Schattendasein des Frauen-Eishockey geschuldet ist.
Zehn Jahre später ging der Traum mit der Gründung der PWHL in Erfüllung. Inhaber der neuen Liga ist die Mark Walter Group von Milliardär Mark Walter, der unter anderem Mitbesitzer des FC Chelsea ist. Diese erwarb die Premier Hockey Federation (PHF), die sich als einzige Frauen-Profiliga der Welt bezeichnete. Jedoch lag die PHF im Clinch mit der Professional Women‹s Hockey Players› Association, die sich aus amerikanischen und kanadischen Starspielerinnen zusammensetzte und mit der Mark Walter Group zusammenarbeitete. Die PHF wurde nun aufgelöst, sodass erstmals die besten Spielerinnen in einer Liga vereint sind.
Grosse Genugtuung
Alina Müller hätte ursprünglich in der PHF auflaufen sollen, in diesem Mai unterschrieb sie einen Einjahresvertrag mit den Boston Pride. Dieser wurde aber mit der Auflösung der Liga nichtig. Für die Winterthurerin begann eine kurze Zeit der Ungewissheit, die am 19. September mit dem Draft der PWHL in Toronto endete. Sie musste sich nicht lange gedulden, denn Boston rief sie als als Nummer 3 und erste Europäerin aus.
«Dass ich tatsächlich das Gleiche wie Mirco erleben durfte, bedeutet mir sehr viel. Es ist ein Tag, den ich nie mehr vergessen werde», sagt sie im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Während den Stunden in Toronto ging Müller ihre ganze Karriere durch den Kopf. «Ich dachte an alle Trainer, alle Mitspielerinnen und auch an jene Leute, die mir stets sagten, dass es unmöglich sei, als Frau mit Eishockey Geld zu verdienen. Es war ein gutes Gefühl, das Gegenteil bewiesen zu haben. Es ist eine grosse Genugtuung und gibt mir viel Motivation für die nächsten paar Jahre.»
Olympia-Bronze mit 15
Alina Müller zeichnete schon früh für Schlagzeilen verantwortlich. Im Februar 2014 nahm sie nicht nur als 15-Jährige an den Olympischen Spielen in Sotschi teil, sie trug mit dem 4:2 und einem Assist zum 2:2 massgeblich zum 4:3-Sieg gegen Schweden in der Partie um die Bronzemedaille und damit zum grössten Erfolg im Schweizer Frauen-Eishockey bei. Ansonsten spielte sie bis zur U17-Stufe mehrheitlich mit Buben. In ihrer letzten Saison bei Kloten in der höchsten U17-Liga (2016/17) erzielte sie in 31 Qualifikationsspielen dreizehn Tore und sieben Assists.
Danach durfte Alina Müller nur noch bei den Frauen antreten. Sie schloss sich den ZSC Lions an, war jedoch komplett unterfordert (80 Punkte in 23 Partien). Nach einem Jahr bei den Zürcherinnen ging sie 2018 nach Boston an die Northeastern University und spielte in der College-Liga - wegen Corona fünf statt vier Jahre. Heuer schloss sie mit einem Master in Rehabilitationswissenschaften ab, nachdem sie zuvor den Bachelor in Neurowissenschaften gemacht hatte.
Perfektes Timing
Das Timing bezüglich der neuen Liga hätte also besser nicht sein können, und dass sie dann auch noch von Boston gezogen wurde, war das Tüpfelchen auf dem i. «Unglaublich, dass alles so aufgegangen ist», sagt Müller. Um sich optimal auf die PWHL vorzubereiten, kehrte sie im August temporär zu den ZSC Lions zurück. «Ich bin wirklich etwas erschrocken», gibt sie zu. «Es ist eine Enttäuschung, dass es in den letzten fünf Jahren nicht viel besser geworden ist.»
So musste sie mit dem Team nach wie vor zu Randzeiten trainieren. Müller wünscht sich, dass mehr Vereine dem Beispiel des EV Zug folgen werden. Die Zentralschweizer haben auf diese Saison hin ein Frauen-Team gegründet und lassen sich dieses einiges kosten. Aktuell sei eine optimale Entwicklung in der Schweiz nach wie vor nicht möglich, sagt Müller. Sie erhofft sich auch von der PWHL einen Schub. Jedenfalls ist sie überzeugt, dass die neue Liga in Nordamerika zu einem Hype führen wird.
Zunächst aber reist Alina Müller am Freitag in die Schweiz. Am Sonntag wird sie an den Sports Awards dabei sein, da sie wie im vergangenen Jahr eine von sechs Nominierten für den MVP im Schweizer Mannschaftssport ist. Das unterstreicht ebenfalls, was sie geschafft hat. Sie kann nun tatsächlich vom Eishockey leben. In jedem Team der PWHL müssen mindestens sechs Spielerinnen 80'000 Dollar oder mehr verdienen. Sie ist bei Boston eine davon, der Vertrag läuft drei Jahre. Und schon bald ist der 3. Januar 2024.