Steffen ärgert sich über Luganos alte Muster
Als Renato Steffen am Sonntag auf der Tribüne im Cornaredo Platz nimmt, fühlt er sich von Minute zu Minute schlechter. Meldet sich die unter der Woche eingefangene Erkrankung zurück, die ihn zum Zuschauen zwingt? Oder ist es das Spiel seiner Mannschaft, das ihm zusetzt? 8. Minute 0:1, 17. Minute 0:2, 35. Minute 0:3. Steffen sieht, wie seine Teamkollegen von Lausanne-Ouchy, dem Schlusslicht der Tabelle, regelrecht überfahren werden.
Trotz Reaktion in der zweiten Halbzeit resultieren zum Auftakt der Rückrunde null Punkte. Für die Tessiner ist es die bereits neunte Niederlage der Saison, so viele, wie das Team in der letzten Spielzeit insgesamt kassiert hat.
«Ideenlos, saftlos, träge.» Das sind die klaren Worte, die Steffen vier Tage später im Gespräch mit Keystone-SDA zur Leistung in der ersten Halbzeit findet. «Dabei hatte ich gehofft, dass wir die Fehler der Hinrunde nicht wiederholen.» Damit meint der 32-Jährige, dass sein Team oft erst in die Gänge komme, «nachdem wir eins auf Deckel bekommen haben». Ein Umstand, den Steffen seit seiner Ankunft im Tessin schon mehrmals anprangert hat.
Mit klarer Mission nach Lugano
Im Sommer 2022 muss sich Steffen nach vier Jahren bei Wolfsburg neu umsehen. Der als «Wadenbeisser» berühmt-berüchtigte Aussenläufer entscheidet sich, in die Super League zurückzukehren, weil er mit Lugano einen finanzstarken Verein findet, der ihm eine Vision mit ihm als Leitwolf vorlegt. Mit Steffen als Leader aus der Bundesliga soll der damalige Cupsieger weiter verstärkt werden.
Steffen nimmt seine Rolle als Antreiber von Anfang an sehr ernst. So ernst, dass er auch nicht davor zurückschreckt, die Genügsamkeit seiner Mitspieler öffentlich zu kritisieren. Zudem schlägt er vor, einen Bussenkatalog einzuführen, um der mangelnden Disziplin im Team entgegenzuwirken.
Immer wieder betont er, dass es in Lugano eine neue Leistungskultur brauche. Dass es eben nicht reiche, sich mit ansprechenden Auftritten zufrieden zu geben, sondern man immer nach noch mehr streben soll. Und zwischenzeitlich sieht es richtig gut aus. Lugano zeigt in der letzten Saison eine starke Rückrunde, erreicht den 3. Platz in der Liga und erneut den Cupfinal, der allerdings verloren geht.
Mentale Kraft geht aus
Der erhoffte nächste Schritt erfolgt in dieser Saison aber bisher nicht. Die europäischen Auftritte sind - mit einer glanzvollen Ausnahme - bescheiden, in der Meisterschaft fehlt die Konstanz. Und Steffen? Der kommt zwar auf zehn Assists (drei Tore) und ist damit der mit Abstand beste Vorlagengeber der Liga, hadert jedoch mit dem ständigen Auf und Ab seines Teams.
Das zeigt sich besonders nach dem 1:3 gegen Basel, als er im TV-Interview genervt verlauten lässt, er sage jetzt nicht zu viel, «sonst wird mir das noch um die Ohren gehauen». Darauf angesprochen erklärt Steffen: «Nach guten Phasen denken viele plötzlich, es ginge von alleine. Und dann werden wir für die Nachlässigkeit bestraft.» Es sei anstrengend, seit fast zwei Jahren stets darauf hinzuweisen, nur um zu sehen, wie das Team wieder in alte Muster verfällt.
Würde man ihn nicht besser kennen, hätte man das Gefühl, Steffen wirke etwas resigniert. Doch das passt nicht zu seiner kämpferischen Art, die auch Nationaltrainer Murat Yakin so an ihm schätzt (Steffen wurde in neun von zehn Spielen der EM-Qualifikation eingesetzt). «Ich sehe, dass der Wille da ist», relativiert der Angreifer denn auch. «Und das Potenzial in diesem Verein ist sowieso gross.»
Geld verpflichtet
Mit dem Amerikaner Joe Mansueto verfügt Lugano über einen potenten Geldgeber, der in Interviews immer wieder betont, Geduld zu haben und langfristig etwas aufbauen zu wollen. Steffen sagt, dass diese Grundlagen einerseits für die nötige Ruhe im Klub sorgen. «Gleichzeitig weisst du als Spieler, dass durch die Investitionen auch Erwartungen da sind. Wir sind gefordert, die Resultate zu liefern.»
2026 soll das neue Stadion eröffnet werden. Ob Steffen dann noch schwarz-weiss trägt, ist offen. Sein Vertrag läuft Ende der nächsten Saison aus. Der gebürtige Aargauer hält jedoch fest, dass er sich im Tessin wohl fühle. Sein älteres Kind geht hier mittlerweile zur Schule, nur noch selten fährt die vierköpfige Familie durch den Gotthard in die Deutschschweiz.
Vorerst geht es darum, dass Lugano den Kurs wiederfindet. Am Sonntag wartet mit dem Gastspiel in St. Gallen jedoch eine schwierige Aufgabe. Und Steffen, den es nach der Erkrankung in den Adduktoren zwickt, wird wohl erneut zusehen müssen. «Es ist schwierig: Ich möchte meinem Team helfen, darf aber nichts überstürzen.» Schliesslich denkt Steffen auch an die EM im Sommer, die nach der WM in Katar ein weiterer Meilenstein in seiner Karriere darstellen würde.