«Meine Mutter gab mir mit, nicht immer alles so ernst zu nehmen»
Murat Yakin, wie haben Sie die erste Woche im Vorbereitungscamp erlebt?
«Sehr positiv und spannend. Es war speziell, dass die Spieler für einmal in zwei Tranchen eingerückt sind. Was wir uns davon erhofft haben, ist aber eingetroffen: Wir konnten gut trainieren, es herrschte stets eine hohe Intensität, aber auch eine gute Stimmung.»
Einige junge Spieler waren zum ersten Mal im Kreis des Nationalteams. Wie haben Sie die Dynamik im Team erlebt?
«Die Jungen waren und sind natürlich motiviert, sich zu beweisen, ihr Können zu zeigen. Es war aber auch spannend zu beobachten, wie die Intensität nochmals höher wurde, als noch mehr Leistungsträger hier angekommen sind. Da sind einige vor Ehrfurcht fast ein bisschen erstarrt. Für sie war es sicher gut, erste Erfahrungen auf diesem Niveau zu sammeln.»
Das Nationalteam hat sich erneut für ein grosses Turnier qualifiziert, trotzdem standen Sie im Herbst heftig in der Kritik. Hat Sie das geschmerzt?
«Wenn es nur um die Leistungen im Herbst gegangen ist, war mir das egal. Der Druck von aussen gehört zum Geschäft. Nervös wurde ich nie, ich wusste, dass unser Team über die nötige Qualität verfügt. Familiär hatte ich aber sicher nicht die einfachste Zeit, meine Arbeit wurde dadurch allerdings nicht beeinflusst. Ich wusste immer, dass Verband, Spieler und ich im gleichen Boot sitzen und spürte die Unterstützung.»
Waren wirklich alle im gleichen Boot? Gewisse Aussagen von Granit Xhaka und Pierluigi Tami hatten etwas anderes vermittelt.
«Es ist in der schwierigen Situation am Schluss von allen Seiten zur Nervosität beigetragen worden. Ich schätze Granit sehr als Spieler und als Typ. Dass nach einem Spiel in den Emotionen mal eine etwas kontroverse Aussage fällt, ist normal. Wir haben das ausdiskutiert und gut gelöst, finde ich. Und bei Pierluigi war es so, dass man in einige Aussagen vielleicht etwas viel hineininterpretiert hat. Ich habe ihn in persönlichen Aussagen immer anders wahrgenommen.»
Ihre lockere Art haben Sie aber schon etwas verloren.
«In der Kombination mit der familiären Situation war es sicher nicht einfach für mich. Wie soll ich ein Lächeln im Gesicht haben, wenn ich weiss, dass meine Mutter im Sterben liegt? Es war eine intensive Zeit: Am Tag der Beerdigung sass ich im Flugzeug, konnte nicht bei der Familie sein. Aber ich musste mich auf mein Ziel und meinen Weg konzentrieren. Dieser war noch nie einfach in meinem Leben.»
Hätten Sie gerne mehr Zeit gehabt, um den Verlust Ihrer Mutter richtig verarbeiten zu können?
«Die Verarbeitung ist ein Prozess, den jeder mit sich selbst ausmachen muss. Wir sind eine Grossfamilie mit acht Geschwistern, aber am Schluss muss jeder seinen eigenen Weg finden. Abgelenkt war ich nicht. Meine Mutter hat mir Vieles auf den Weg gegeben. Etwas davon war: Nicht immer alles so ernst zu nehmen. Von irgendwoher habe ich ja diese Lockerheit. Es gibt Schlimmeres im Leben als ein Resultate-Tief. Im Sport gehören Niederlagen dazu.»
Waren die Medien also zu streng?
«Mit den ersten drei Spielen haben wir hohe Erwartungen geschürt. Natürlich ist im Nachhinein immer wieder auf die Aussage von Granit verwiesen worden, wonach wir zehn Siege in zehn Spielen holen wollen. Aber das wurde ihm damals bei der Pressekonferenz in Genf in den Mund gelegt. Ich kann unsere Leistungen gut einschätzen.»
Profitieren Sie als Nationaltrainer von den Erfolgen die mitunter Yann Sommer, Granit Xhaka und Manuel Akanji im Klub feiern?
«Wir profitieren alle vom Selbstvertrauen, das die Spieler mitbringen. Letztes Jahr hat es Granit schon gewurmt, ohne Titel einzurücken. Dieses Jahr werden er und auch die anderen Leistungsträger die Mitspieler noch mehr mittragen als vorher bereits.»
Sommer, Akanji und Xhaka: drei Spieler auf der Achse, die in den Top-5-Ligen Europas Meister wurden. Ist das Schweizer Nationalteam auf dem Zenit?
«Es ist eine exzellente Momentaufnahme. Und die Leistung der anderen, zum Beispiel der Bologna-Spieler, geht bei allen anderen Erfolgen fast unter. Für mich ist es eine Erleichterung, weil ich nicht nach Spielern suchen muss. Jetzt hoffe ich, dass sie die Leistungen durchziehen können. Der Rhythmus und das Momentum sind an solch einem Turnier enorm wichtig.»
Ausserdem sind sehr viele Schweizer Nationalspieler in ihren Klubs Captain. Wie wirkt sich das auf die Mannschaft aus?
«Bei uns übernehmen viele Spieler Verantwortung. Und alle haben das Bedürfnis, Stammspieler im Nationalteam zu sein. Eine gute Vorbereitung ist wichtig: Jeder muss seine Rolle kennen. Das Team-Gerüst steht, ein bisschen Luft rundherum besteht noch. Es braucht gute Leistung bis zum Schluss.»
Zuletzt ging es auch um die Rolle von Xherdan Shaqiri. Was ist von ihm zu erwarten?
«Wir wissen, was wir an Shaq haben. Er ist ein Entscheidungsspieler und sehr wichtig für das Nationalteam, niemand hat einen so genialen Fuss wie er. Im März hatte er erst wenige Spiele in den Beinen, weshalb ich auf einen Spieler gesetzt habe, der schon mehr im Rhythmus war. Und so habe ich ihm das auch mitgeteilt. Dass er in der MLS nicht auf dem Niveau spielt wie in einer europäischen Top-Liga, ist aber auch klar. Es liegt in seiner Verantwortung, dass er, genau wie alle anderen auch, fit ins Nationalteam einrückt.»
Bei ihm könnte es zu Unruhe führen, wenn er nicht gesetzt ist.
«Am Schluss entscheide ich bei jedem Spiel, wer für das Team die beste Option ist.»
Kommen wir zum ersten EM-Gegner Ungarn. Was erwarten Sie da?
«Einen Gegner, der sein System haargenau kennt, und der ebenfalls über Spieler verfügt, die in den Top-Ligen spielen.»
Schottland ist der wohl schwächste Gegner.
«Schottland hat in der EM-Qualifikation Spanien besiegt. Auch diesen Gegner gilt es genau zu beobachten und die richtigen Schlüsse zu ziehen. An einer Endrunde befinden sich alle Gegner auf Augenhöhe. Klar ist einzig, dass nichts klar ist. Du kannst jedes Spiel gewinnen und verlieren.»
Deutschland hatte länger keinen Ernstkampf mehr und wechselte im letzten Jahr den Trainer. Nach dem Zwischentief überzeugte die Mannschaft zuletzt wieder mit Testspiel-Siegen gegen Frankreich und die Niederlande. Wie nehmen Sie dieses Team wahr?
«Das Programm mit nur Testspielen war nicht einfach. Schon nur, wenn du fünf Prozent weniger gibst, den Fuss vielleicht einmal mehr zurückziehst, weil im Klub wichtige Partien anstehen, wird es brutal schwierig. Jetzt, mit dem bevorstehenden Heimturnier, sieht man die Qualität in diesem Team wieder. Wichtig ist nur, zum richtigen Zeitpunkt bereit zu sein. Dann interessieren die Testspiel-Resultate niemanden mehr.»
Für Sie ist es das zweite Grossturnier nach der WM in Katar. Sind Sie froh, dass dieses Mal mit weniger Nebenschauplätzen zu rechnen ist?
«Wir müssen immer gewappnet sein, dass irgendwelche Themen plötzlich mehr Gewicht erhalten. Wichtig ist, dass wir intern den Fokus behalten. Aber wir haben Erfahrungswerte und sind auf verschiedene Szenarien vorbereitet.»
Als Spieler haben Sie die WM 2006 in Deutschland verpasst, schauten sich das Turnier aber als Fan an. Erwarten Sie ähnliche Emotionen wie damals?
«Wir werden die Emotionen, die Nähe zu den Fans, sicher viel intensiver mitbekommen als noch in Katar. Wir sind in einem Land, das uns nahe ist. Die Luft dort ist uns bestens bekannt, bei den Abläufen werden uns keine Überraschungen erwarten. Über die Organisation müssen wir nicht diskutieren. Es wird ein tolles Turnier werden und wir stehen in der Verantwortung, mit guten Resultaten eine Euphorie zu entfachen.»
Welche Resultate braucht es, damit Sie im September noch Nationaltrainer sind?
«Muss ich so weit in die Zukunft denken? Ich weiss, wer morgen Nationaltrainer ist. Und wer es übermorgen ist, weiss ich auch. Als ich im August 2021 Nationaltrainer wurde, habe ich einen Vertrag bis Ende Jahr unterschrieben mit der Option auf Verlängerung, falls wir uns für die WM qualifizieren.»
Das hat bekanntlich geklappt. Im Frühling wurde Ihnen erneut eine Vertragsverlängerung angeboten.
«Ja, ich wollte das Angebot im Frühling nicht annehmen und erst die EM bestreiten. Ich fühle mich aber wohl dabei.»
Wollen Sie denn Nationaltrainer bleiben?
«Die Aufgabe erfüllt mich immer noch mit grosser Freude und Stolz. Das habe ich dem Verband in guten Gesprächen auch signalisiert. Wir haben darüber gesprochen, dass es im Sport keine Garantie gibt, man sich immer wieder aufs Neue beweisen muss. Das gilt für die Spieler, aber auch für mich.»