Marco Kohlers komplizierte Beziehung zum Lauberhorn
Als Kohler nach dem ersten Training im Ziel von Wengen ankommt, schüttelt er den Kopf. «Es hat nicht viel zusammengepasst», konstatiert der 26-Jährige. Weil er vor dem Brüggli-S stark abbremsen muss, um einen Einfädler zu verhindern, fehlt ihm ab da die nötige Geschwindigkeit. So sind es am Schluss über sechs Sekunden Rückstand auf den Trainingsschnellsten Marco Odermatt. Damit kann Kohler aber leben, wichtiger ist ihm, «die Strecke bezwungen zu haben».
Denn Kohler und das Lauberhorn haben eine etwas komplizierte Beziehung. Vor vier Jahren - der Meiringer war im Europacup unterwegs und wartete auf den Durchbruch - fuhr er die Piste als Vorfahrer hinunter. Kurz vor dem Ziel stürzte er und musste mit dem Helikopter ins Spital gebracht werden. Dort stellte man einen «Totalschaden» in Kohlers linkem Knie fest. Kreuz- und Innenband, Patellasehne und Meniskus waren gerissen. Eine ernüchternde Diagnose und der Beginn einer langen Leidenszeit.
Mühsamer Weg zurück
Die Rehabilitation war von Rückschlägen geprägt, immer wieder hielt das Knie den Belastungsproben nicht stand. Es ist die Zeit, in der die Ski-Karriere Kohlers ohne dessen starken Willen wohl zu Ende gegangen wäre. Denn von medizinischer Seite hiess es, es sei unwahrscheinlich, dass Kohler noch Profi-Rennen bestreiten werde. Ernüchtert legte er eine Reha-Pause ein, gab den Glauben an ein Comeback aber nicht auf.
Nachdem er eine Weile in der Auto-Garage seines Vaters gearbeitet hatte, wandte sich Kohler an den Athletiktrainer Roland Fuchs. Dieser war vor allem durch seine Arbeit mit dem SC Bern sowie den Schwingerkönigen Kilian Wenger und Matthias Glarner bekannt, gross geworden war er jedoch wie Kohler im Skisport. Mit Fuchs’ Programm traten endlich die erhofften Fortschritte ein, Kohler kämpfte sich schrittweise zurück.
Starker Auftakt in erste Weltcup-Saison
Fast genau zwei Jahre nach seiner Verletzung bestritt Kohler im italienischen Travisio wieder eine Abfahrt auf zweithöchster Stufe. Bereits in der Saison darauf gab er in Kitzbühel sein Weltcup-Debüt und entschied im Europacup die Disziplinen-Wertung für sich. Damit holte er sich ein dauerhaftes Ticket für den Weltcup und rechtfertigte dieses beim Saisonauftakt in Gröden, wo er mit Startnummer 41 und einer sensationellen Fahrt auf den 8. Platz fuhr.
Zwei Wochen später bewies er in Bormio, dass dies kein einsamer Ausreisser nach oben gewesen war und erreichte in der Abfahrt den 10. Platz sowie im Super-G den 13. Rang. «Die Resultate waren nach der ganzen Verletzungsgeschichte eine riesige Genugtuung», sagt Kohler rückblickend. «Ich weiss jetzt, dass ich auf verschiedenen Strecken bestehen kann und gehe den Rest der Saison mit viel Selbstvertrauen an.» Trotz der beiden Top-10-Plätze hat sich an der Zielsetzung für Wengen nichts geändert. Für Kohler gilt weiterhin, die Punkteränge zu erreichen und sich im Weltcup zu etablieren.
Weggefährte von Odermatt
Wie gross die Genugtuung nach dem erfolgreichen Saisonstart gewesen sein musste, wird klar, wenn man bedenkt, dass Kohler lange als grosses Talent galt. Sogar den gleichaltrigen Odermatt, ein guter Freund und ehemaliger Zimmergenosse an der Sportmittelschule, hatte er zu Beginn oft hinter sich gelassen. Doch während dieser so richtig durchstartete, musste sich Kohler mit langwieriger Aufbauarbeit herumschlagen. Dass sie nun wieder gemeinsam unterwegs sind, freut beide. «Nach einer Verletzung ist das Gefühl bei der Rückkehr vielleicht etwas mulmig, das ist bei allen so», sagt Odermatt. «Aber Marco hat dies verarbeitet und wird fürs Rennen parat sein.»
Als er am Dienstag erneut ins Ziel-S einbiegt, denkt Kohler nicht mehr an den folgenschweren Sturz - zumindest nicht bewusst. «Natürlich schwirrt er noch irgendwo im Kopf herum, aber ich habe mich heute wirklich die ganze Zeit sehr gut gefühlt», sagt Kohler. Und schliesslich verbindet der Berner Oberländer mit Wengen nicht bloss das Schlechte, sondern auch viele schöne Kindheits- und Jugenderinnerungen. Diese guten Gefühle sollen in den nächsten Tagen Zuwachs erhalten.