«Ich spreche es an, wenn mich etwas stört»
Silvan Widmer, Sie sind seit der Saison 2022/23 Captain von Mainz 05, einem Team in einer der besten Ligen der Welt. Was für eine Art Captain sind Sie, was ist Ihnen besonders wichtig, was wollen Sie gerade auch den jüngeren Spielern weitergeben?
«Generell blicke ich stets nach vorne. Ich versuche, die nächste Aufgabe als neue Herausforderung anzunehmen, denn das Vergangene kann nicht mehr geändert werden. Dass wir im Jetzt präsent sein müssen, auf und neben dem Platz, versuche ich auch den Jüngeren mitzugeben.»
Mainz befindet sich aktuell im Abstiegskampf. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe, dass es bisher nicht so gelaufen ist, wie Ihr Euch das vorgestellt habt?
«Das hat vielseitige Gründe. Wir starteten schlecht in die Saison, es gab Spiele, in denen wir es nicht schafften, an unsere Leistungsgrenzen zu gehen. Wir hatten und haben viele Verletzte. Dann gab es wiederum Partien, die wir aufgrund der Chancen hätten gewinnen müssen, wie zuletzt gegen Bremen. Da müssen wir uns an der eigenen Nase nehmen.»
Wie nah geht Ihnen das? Oder anders gefragt: Können Sie das im Alltag gut ausblenden?
«Es geht mir natürlich schon nah, weil mir die Mannschaft und der Verein sehr am Herzen liegen. Zu Hause versuche ich aber, mir nicht zu viele Gedanken darüber zu machen, sondern abzuschalten.»
Fällt Ihnen das leicht?
«Wenn es nicht läuft, ist das schwieriger, ganz klar. Aber ich schaffe es. Die Kinder und meine Frau sind diesbezüglich eine enorme Hilfe. Es ist eine schöne Ablenkung, Vater zu sein.»
Sie verletzten sich Ende April am Sprunggelenk, bestritten erst Ende November Ihr erstes Saisonspiel. War die Zwangspause umso schwieriger, weil es der Mannschaft nicht gelaufen ist?
«Ja, es war eine schwierige Zeit. Aufgrund der ausbleibenden Ergebnisse tat es noch mehr weh. Ich wollte als Captain auch während meiner Pause etwas tun. Ich versuchte während der Reha, so viel Zeit wie möglich in Mainz zu verbringen, in der Nähe der Mannschaft zu sein. Ich führte Gespräche, teilte meine Beobachtungen mit. Ich konnte jedoch nur in einem deutlich kleineren Rahmen helfen. Das musste ich akzeptieren, was hart war.»
Man hört immer, dass Rückschläge einen stärker machen. Stimmen Sie dem zu?
«Ich lernte sicher viel. Während der Reha lief alles okay. Dennoch habe ich natürlich gehofft, dass alles schneller geht als angenommen. Dem Körper die nötige Zeit zu geben ist sicher etwas, das ich für die Zukunft mitnehmen kann - umso mehr ich nicht mehr der Jüngste bin im Fussball und daher ohnehin mehr in die Gesundheit investieren muss.»
Das heisst, Sie achten nun mehr auf wichtige Aspekte wie Erholung und Ernährung wie früher? Anders geht es wahrscheinlich gar nicht mehr im Fussball.
«Ja, zumal heutzutage viel mehr überwacht wird als früher. Es ist nicht mehr möglich, etwas zu verstecken, was ich ohnehin nicht möchte. Wir Fussballer sind sehr privilegiert, die Karrieredauer ist allerdings beschränkt. Von daher ist jedes Detail wichtig, um das Optimum herauszuholen. Ich achte nun beispielsweise mehr auf den Schlaf.»
Sind Sie jemand, der sich in schwierigen Zeiten eher zurückzieht?
«Ich kann es nicht verstecken, wenn es mir nicht so gut geht. Ich werde dann ruhiger. Jedoch gehe ich offen mit schwierigen Situationen um. Ich spreche es konstruktiv an, wenn mich etwas stört oder belastet.»
Als Fussballer steht man in der Öffentlichkeit. Tun Sie das gerne oder ist es eher ein notwendiges Übel?
«Es stört mich nicht, das ist ein Teil des Business. Selbst wenn mich Leute in der Stadt ansprechen und unsere Leistung kritisieren, ist das für mich keine Belastung. Ich empfinde es nicht als persönlichen Angriff oder als verletzend. Vielmehr zeigt mir das, dass der Verein den Leuten wichtig ist und alle das Beste wollen.»
Heutzutage kommen noch die ganzen sozialen Medien dazu, in denen jeder anonym seine Meinung kundtun kann. Wurden Sie schon mit Anfeindungen konfrontiert?
«Ja, ich erhalte immer mal wieder Nachrichten, die unter der Gürtellinie oder beleidigend sind. Aber ich lasse das nie nah an mich herankommen. Ich mache mir keine grossen Gedanken darüber. Hinter einem Bildschirm ist es einfacher, sich zu verstecken und weniger reflektierte Aussagen zu tätigen.»
Im Fussball ist der Druck gross - umso mehr, wenn man sich im Abstiegskampf befindet. Machen Sie etwas für die mentale Gesundheit, die ein grosses Thema ist?
«Nichts Spezielles. Meine Gedanken kreisen nicht die ganze Zeit um Fussball. Es ist schon so, dass der Druck derzeit grösser ist, aber ich fühle mich deswegen nicht eingeengt. Ich kann gut damit umgehen.»
Ihr letztes Länderspiel bestritten Sie aufgrund der Verletzung Ende März beim 3:0 gegen Israel. Seither konnte die Mannschaft nur noch selten überzeugen. Was hat, von aussen betrachtet, gefehlt?
«Wir hatten ganz viele Partien, die ähnlich aussahen. Wir dominierten den Gegner über weite Strecken, hörten dann aber gegen Ende auf zu spielen, statt den Sack zuzumachen. Es fehlte die Souveränität. Darum gewannen wir nicht mehr viele Matches.»
Einmal kann das ja passieren, aber in diesem Ausmass kann das eigentlich nicht sein.
«Das sollte einem Team mit unserer Qualität, mit unserem Anspruch nicht passieren. Dennoch qualifizierten wir uns, was das Hauptziel war. Nun blicken wir nach vorne und versuchen, die Fehler abzuschalten.»
Das Hauptziel wurde erreicht. Dennoch herrschte nach dem letzten Qualifikationsspiel Katerstimmung. Es wurde fast alles schlecht geredet. Können Sie das verstehen?
«Ja und nein. Nach der Auslosung waren alle sehr optimistisch innerhalb der Mannschaft und auch ausserhalb. Die Resultate der vergangenen Jahre führen dazu, dass die Ansprüche gestiegen sind. Wir wollten die Gruppe diskussionslos gewinnen, was uns nicht gelang. Das hat uns geärgert. Allerdings ist es auch nicht selbstverständlich, dass wir uns wieder für ein grosses Turnier qualifiziert haben.»
Sie waren in Katar der einzige Rechtsverteidiger im Schweizer Aufgebot, weshalb Ihr Ausfall bei der 1:6-Niederlage im Achtelfinal umso bitterer war und Nationaltrainer Murat Yakin hinterfragt wurde. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass auf dieser Position hierzulande aktuell ein Mangel herrscht? Ist das ein Zufall?
«Ich habe keine Erklärung dafür, weiss aber auch gar nicht, ob wir wirklich einen Mangel haben. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass wir ein kleines Land und nicht unbedingt eine klassische Fussball-Nation sind. Von daher ist es normal, nicht auf jeder Position fünf gleich gute Spieler zu haben, wie das bei anderen Nationen der Fall ist. Wir holten in den letzten Jahren so viel aus unseren Möglichkeiten heraus. Es wird auch in Zukunft mal der Fall sein, dass wir auf gewissen Positionen Engpässe haben. Damit gilt es umzugehen und das Beste daraus zu machen.»
Im Sommer steht die EM in Deutschland im Programm, im März die Testspiele gegen Dänemark und Irland. Was wird das Wichtigste sein, um wieder eine positive Grundstimmung hinzubekommen?
«Das wird von allein passieren. Es steht eine EM vor der Tür in einem benachbarten Fussball-Land, die Gegner im März sind attraktiv. Wir sind eine richtig coole Truppe, ich bin zu hundert Prozent überzeugt, dass alle nach vorne blicken und wir wieder ein tolles Gesicht zeigen werden. Dass eine Reaktion von uns verlangt wird, ist klar.»
Wie präsent ist die EM bereits?
«Sie ist natürlich ein absolutes Highlight, das ich hoffentlich erleben darf. Ich freue mich riesig - auch darauf, dass wir eine Partie in Frankfurt spielen, in der Nähe meiner aktuellen Heimat. Aktuell habe ich aber nur ein Ziel - nämlich, mit Mainz aus dem Abstiegskampf herauszukommen.»
Um den Kreis zu schliessen: Was macht Sie zuversichtlich, den Abstieg mit Mainz zu verhindern?
«Die Qualität im Team ist gross. Wir haben nach wie vor Vertrauen ineinander. Da rede ich vom ganzen Verein. Es wird wichtig sein, dass alle weiterhin zusammenhalten. Mainz war schon oft in aussichtslosen Situationen und konnte sich immer wieder retten. Das stimmt mich zuversichtlich.»