Erschöpft geht es erst richtig los
Olympische Spiele 2016 in Rio de Janeiro, der Schweizer Leichtgewichtsvierer passiert die letzte Zwischenzeit nach 1500 m, 500 m sind noch zu rudern. Dennoch ist Schlagmann Mario Gyr bereits schwarz vor Augen, im Ziel weiss er zunächst nicht, dass es zu Gold gereicht hat. Er muss sich gar übergeben.
Es ist eine Szene, die bestens beschreibt, wie sehr Ruderinnen und Ruderer an ihre Grenzen gehen müssen. Bereits vor Rennhälfte ist der Puls im maximalen Bereich. Und weil die Sauerstoffmenge schon bald nicht mehr für die Energiegewinnung ausreicht, wird durch den anaeroben Mechanismus Laktat gebildet, das bedeutet, dass die Muskeln übersäuern und ermüden. Doch dann fängt das Rennen erst «richtig» an.
«Bei Rennhälfte wird es meistens hart, auf den dritten 500 Metern trennt sich dann die Spreu vom Weizen», sagt Jan Schäuble, zusammen mit Raphaël Ahumada WM-Zweiter 2023 und zweifacher Europameister im Leichtgewichts-Doppelzweier, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Verbandsdirektor Christian Stofer spricht von einer Extremsituation. Das Wissen, körperlich an den Anschlag zu kommen, mache einen grossen Teil der Nervosität der Athletinnen und Athleten aus, so Stofer.
Ein mentales Spiel
Gibt es einen Trick, um mit den Schmerzen umgehen zu können? «Sobald du etwas nachlässt, wenn du am Anschlag bist, umhüllt dich der Schmerz. Aber wenn du stets einen draufsetzt, dich steigerst und steigerst, dann geht es. Es ist ein mentales Spiel», erklärt Roman Rössli, im vergangenen Jahr Weltmeister im Zweier ohne mit Andrin Gulich. Lisa Lötscher, Mitglied des Doppelvierers der Frauen, lenkt sich ab, wenn der Laktatschub kommt. «Ich fokussiere mich auf technische Dinge. Auf was, nehme ich mir vor dem Rennen vor.»
Einig sind sich alle, dass es ein Prozess ist, sich quälen zu können. Deshalb wird im Rudern bis zu 30 Stunden pro Woche trainiert, was dank den geringen Verschleisserscheinungen möglich ist. Das Schweizer Team absolviert normalerweise an sechs Tagen die Woche drei Trainingseinheiten, zwei davon auf dem Wasser. Dreimal wöchentlich wird im Kraftraum geschuftet, mehrheitlich mit Freihanteln. «Der ganze Körper muss ausbalanciert sein», so Stofer. Auch Trainings auf dem Ergometer gehören zum Programm.
24 Trainingsstunden pro Woche ohne Besprechungen und Videoanalyse sind für Stofer das Minimum, um Weltspitze sein zu können. Schliesslich gilt es nicht nur durchzuhalten, sondern auch im ermüdeten Zustand technisch sauber zu rudern. «Das ist nur möglich, wenn der Fitness-Level im absoluten Peak-Bereich ist», sagt Stofer. Schon die kleinste Nachlässigkeit räche sich.
Sowas von bereit
Solche lässt Headcoach Ian Wright jedoch nicht zu. Stofer bezeichnet den Australier als kompromisslos. In seinem Programm rudern alle Boote die gleichen Distanzen. Zudem gibt er die Geschwindigkeit vor, beispielsweise 80 Prozent der Weltbestzeit. Dies überwacht er vom Boot aus - es wurde in spezielle Messtechnologien investiert.
«Dass wir tagtäglich an die Limiten gepusht werden, macht uns stark», sagt Lötscher. «Wir sind nun sowas von bereit.» In die gleiche Richtung äussert sich Röösli: «Aufzustehen und weiterzumachen, wenn du am liebsten nur am Boden liegen würdest, das härtet dich ab. Ein Rennen tut zwar schon weh in den Beinen, ist aber lockerer als das Training.» Dies sei ein Ziel des strengen Programms. Für Schäuble sind die Wettkämpfe die Belohnung für die Schufterei.
Zu den Qualitäten von Ian Wright gehört auch, die Formkurve richtig zu steuern. Deshalb wurde zuletzt die Erholung noch höher gewichtet. Abgerechnet wird dann am 3. August, dann stehen im Rudern die letzten Finals auf dem Programm. Wann ist Stofer zufrieden? «Wenn wir eine Medaille gewinnen und alle gesund sind.»