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Doppelbürger Scott Sutter über England und die Schweiz

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Doppelbürger Scott Sutter über England und die Schweiz

5. Juli 2024, 04:01 Uhr
Spielte von 2009 bis 2017 für die Berner Young Boys: Der schweizerisch-englische Doppelbürger Scott Sutter
© KEYSTONE/EPA/David Richards
Scott Sutter kommt auf zwei Länderspiele für die Schweiz. Doch der in London geborene frühere Fussballprofi verbindet auch einiges mit England. Der EM-Viertelfinal ist für ihn ein spezielles Duell.

Scott Sutter wächst in London auf. Als 16 Jähriger siedelt er in die Schweiz, die Heimat seines Vaters, um und verfolgt den Traum vom Fussballprofi, der sich erfüllt, als er zwei Jahre später für die Grasshoppers debütiert. Am längsten spielt der Rechtsverteidiger in Bern. Nach acht Jahren bei den Young Boys erfüllt er sich 2017 den Traum vom Auslandabenteuer und wechselt in die nordamerikanische Profiliga MLS zu Orlando City. Seit seinem Rücktritt 2020 ist der 38-Jährige als Trainer im Nachwuchsbereich tätig. In Florida hat er die «Scott Sutter Soccer School» gegründet. Zudem wirkt er bei den Übertragungen der Spiele von Orlando City als Co-Kommentator und Analyst.

Im Interview mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA spricht Sutter über das spezielle Duell im EM-Viertelfinal zwischen der Schweiz und England. Er sagt, was die Schweiz in seinen Augen abhebt von den «Three Lions». Er erklärt, weshalb die Engländer auf ihn bisweilen arrogant wirken, und der zweifache Schweizer Nationalspieler prognostiziert, was er dem Gewinner dieses Viertelfinals zutraut.

Scott Sutter, Sie leben in Florida. Haben Sie die Europameisterschaft überhaupt verfolgt?

«Bisher habe ich nur etwa zweieinhalb Spiele live gesehen. Den Achtelfinal der Schweiz gegen Italien, denjenigen der Engländer gegen die Slowakei und noch einen Teil von Belgien gegen Frankreich. Ich hätte gern mehr geschaut, aber ich hatte einfach keine Zeit. Hier in Orlando ist Mittag und Nachmittag, wenn gespielt wird. Und da stehe ich meistens auf dem Trainingsplatz.»

Wie stark wird das Turnier in den USA überhaupt wahrgenommen?

«Es ist schon nicht wie in Europa, wo du während einer EM keine zehn Meter laufen kannst, ohne irgendeine Fahne zu sehen, die auf das Turnier hinweist. Die USA sind so ein grosses Land, und die Distanzen sind so gross. Hier gibt es Millionen von Menschen, die sich gar nicht für Fussball interessieren. Selbst die 15-Jährigen, die zu mir ins Training kommen: Wenn ich sie frage, ob sie das Spiel der Engländer gegen die Slowakei und den Fallrückzieher von Jude Bellingham gesehen haben, sagen sie, ‹Nein, was ist passiert?› Es ist alles nicht so präsent hier.»

Sie haben den Fallrückzieher aber gesehen. Wie erlebten Sie diesen Moment?

«Als er das Tor geschossen hat, habe ich mitgejubelt. Einfach, weil ich unbedingt wollte, dass England gegen die Schweiz spielt. Aber in einem Spiel Schweiz gegen England bin ich klar für die Schweiz. Ich freue mich sehr auf den Samstag.»

Sie sind Doppelbürger und haben ihre Jugend in England verbracht. Wie speziell ist so eine Partie für Sie?

«Schon speziell. Jetzt fühle ich mich mehr als Schweizer als als Engländer, aber in meiner Jugend war ich ein riesiger England-Fan. Meine Frau fiebert voll mit der Schweiz mit, wir haben lange dort gelebt, und ich habe auch zwei Länderspiele für die Schweiz bestreiten können. Und ich mag Underdog-Geschichten. Die kleine Schweiz gegen das grosse England, da habe ich sowieso immer Sympathien für den Aussenseiter.»

Ist die Schweiz denn wirklich Aussenseiter? In den Medien wird sie nach dem Spiel gegen Italien teilweise favorisiert.

«Wenn man die Formkurve dieses Turniers anschaut, ist die Schweiz sicher Favorit. Das ist schon recht speziell. Und ich bin gespannt, wie die Schweiz damit wird umgehen können. Mit dem Druck, den so eine Ausgangslage mit sich bringt. Ob sich die Spieler plötzlich Gedanken machen werden, oder ob sie auch gegen England so befreit werden aufspielen können wie gegen Italien. In Berlin haben sie so super gespielt, das war schön zum Zuschauen.»

Weniger schön haben die Engländer bisher gespielt. Wie haben Sie das Team erlebt?

«Ich habe zwar nicht alle Spiele live gesehen, aber viel gelesen und mich auch mit meinem Vater ausgetauscht, der alle Partien der Engländer gesehen hat. In den sozialen Medien liest man schon viel Kritik. Es ist wie immer in den letzten Jahren, wenn England an grossen Turnieren spielt.»

Wo sehen Sie die Probleme?

«Trainer Gareth Southgate macht in meinen Augen keinen guten Job und hat auch noch nie einen guten Job gemacht. An der letzten WM nicht, und auch an der letzten EM nicht.»

Trotz Finaleinzug 2021?

«Wenn man die letzten zwei Spiele zuhause im Wembley austragen kann, muss man das Turnier einfach gewinnen. Da gibt es keine Ausreden. Betreffend individueller Qualität der Spieler gibt es fast keine Mannschaften, die so gut besetzt sind wie die Engländer.»

Woran liegt es denn, dass man das auf dem Platz nicht sieht?

«Experten haben es schon oft gesagt: Trainer des Männernationalteams ist einer der schwierigsten Jobs in England. Man hat so viel Druck, die Erwartungen sind so hoch. Bei jedem Turnier heisst es wieder «It’s coming home», und die Mannschaft bringt die Trophäe dann doch nicht nach Hause.»

Erwarten die Fans zu viel von diesem Team?

«Ja. Mich stört bei den englischen Fans, dass sie eine gewisse Arroganz haben. Sie sagen, sie hätten die beste Liga der Welt, die besten Spieler. Aber wenn dann englische Teams in der Champions League spielen oder das Nationalteam an einem Turnier, sieht man, dass es andere Mannschaften gibt, die einfach deutlich besser sind. Die Engländer überschätzen sich, und das führt dann dazu, dass sie immer wieder enttäuscht werden.»

Welche Liga stufen Sie denn besser ein als die englische?

«Ich liebe es, Spiele der Premier League zu schauen, weil ich finde, dass es die interessanteste Liga ist. Aber ich glaube nicht, dass es die qualitativ beste Liga ist. Wenn man Manchester City und Arsenal wegnimmt, ist das Spielniveau in der spanischen Liga viel höher.»

Wo orten Sie neben dem Trainerposten sonst noch Probleme im Nationalteam?

«Die Abstimmung zwischen Harry Kane und Jude Bellingham ist zum Beispiel noch überhaupt nicht vorhanden. Ich habe eine Statistik gesehen. Im Spiel gegen die Slowakei spielten die Engländer um die 670 Pässe. Aber nur gerade einer war zwischen diesen beiden. Das ist wahnsinnig. Und das zeigt, dass England kommunikativ noch nicht auf einem guten Level ist. Aber solange die Resultate stimmen, spielt das nur eine untergeordnete Rolle.»

Diese Herangehensweise scheint riskant.

«Ja. Die Engländer spielen lieber schlecht und gewinnen dann irgendwie 1:0 oder im Penaltyschiessen. Aber so schlecht wie in diesem Jahr haben sie in meiner Erinnerung nie gespielt an einem Turnier.»

Eine grosse Chance für die Schweiz.

«Im Gegensatz zu England agiert die Schweiz als Team. Sie war in den letzten Jahren immer relativ erfolgreich an den grossen Turnieren, überstand die Gruppenphase und schied dann meistens in der ersten K.o-Runde aus. So ausgeprägt wie in diesem Jahr hat man dieses Teamgefüge aber schon lange nicht mehr wahrgenommen. Die Überzeugung, wie die Spieler auf dem Platz agieren, ist beeindruckend.»

Also tippen Sie auf einen Sieg der Schweiz?

«Ich hoffe es. Aber England verfügt über so viel Potenzial. Die können in jedem Moment plötzlich ein gutes Spiel machen. Ich hoffe für die Schweiz, dass die Engländer so spielen, wie sie bis jetzt gespielt haben.»

Kann die Schweiz gar noch weiter kommen als bis in die Halbfinals?

Wenn man die Tableau-Hälfte anschaut, denke ich, dass der Gewinner dieses Viertelfinals im Final stehen wird. Wenn die Schweizer die Engländer schlagen, könnten sie auf die Niederlande oder die Türkei treffen, was keine schwierigere Aufgabe als England ist. Es könnte also weitergehen."

Quelle: sda
veröffentlicht: 5. Juli 2024 04:01
aktualisiert: 5. Juli 2024 04:01