Die zwei Welten des Jannik Sinner
Es war einmal ein schmächtiger Junge, zuhause hinter den sieben Bergen, am äussersten Ende des Südtirols. Talschlusshütte heisst sein Zuhause im Naturpark der berühmten Drei Zinnen in den Dolomiten. Papa Johann ist hier Koch, die Mama Siglinde bedient die Gäste. Der Jüngling beobachtet seinen älteren Bruder Mark, der Skistunden bekommt. Er will auch, die Mutter sagt: «Noch nicht.»
Doch Jannik Sinner lässt sich schon im jungen Alter nicht von seinen Träumen abbringen. «Ich weinte und schrie so lange, bis sie meinte: ‹Dann halt.›», erzählte der Italiener der Website der ATP. «Sie dachten, ich fahre jetzt da einmal runter, und dann gehen wir nach Hause. Aber ich blieb, bis der Lift abgestellt wurde. Ich liebte es.»
Skifahren war, wie für die meisten Südtiroler, Sinners erste Liebe. Auch heute zieht er seine Schwünge in den Schnee, wenn es der Terminkalender zulässt. Er spielte auch Fussball, begann mit Tennis. Die ersten Pokale, unter anderem als italienischer Nachwuchsmeister im Riesenslalom, gewann er auf den Ski.
Bis ein Jahr kam, als andere Kinder kräftiger wurden als der schlaksige Rotschopf und diesen - mutmasslich wäre es nur vorübergehend gewesen - abhängten. «Nachdem ich zweimal ausgeschieden war, verlor ich den Spass», erinnerte er sich. Am Tennis gefiel ihm, dass er sein Schicksal stärker in den eigenen Händen hatte.
Das erste Mal kochen und waschen
Mit 14 verliess er die Berge und wechselte an die italienische Riviera in die Akademie von Riccardo Piatti. Keine einfache Zeit, das Heimweh plagte den Teenager. Das erste Mal selber kochen, selber waschen. «Ich musste sehr schnell erwachsen werden», erzählte er nach dem Triumph am Australian Open zu später Stunde in der Rod Laver Arena von Melbourne. Der Junge aus den Dolomiten ist weit gekommen, im Tennis hatte er die Geduld, die beim Skifahren fehlte.
Den letzten, vielleicht entscheidenden Schritt vom Supertalent zum Champion machte Sinner vor zwei Jahren, als er sich von seinem langjährigen Förderer Piatti trennte und Simone Vagnozzi und Darren Cahill - den einstigen Erfolgscoach von unter anderen Lleyton Hewitt, Andre Agassi und Simona Halep - in sein Team holte. Danach ging es ziemlich stetig, aber ohne grosse Sprünge aufwärts. In der zweiten Hälfte des letzten Jahres startete der Bewunderer von Roger Federer und Fan der AC Milan so richtig durch. Er holte in Toronto seinen ersten Masters-1000-Titel, bezwang zweimal Novak Djokovic und gewann fast im Alleingang für Italien den Davis Cup.
In der Welt von Gucci, Rolex und Ferrari
Spätestens seit da ist er im Bel Paese in die Gilde der Superstars aufgestiegen, mit dem ersten Sieg eines Italieners am Australian Open wird dieser Status ins fast Unermessliche steigen. Die rosa Sportbibel «Gazzetta dello Sport» stellte den «Goldjungen» bereits in eine Reihe mit Alberto Tomba, Marco Pantani und Valentino Rossi.
Sinner bewegt sich längst in zwei grundverschiedenen Welten. Mit seinem roten Wuschelkopf und meist in legere Pullover gekleidet, sieht er auf den ersten Blick noch immer wie der Junge aus den Bergen aus. Doch dieser Welt ist er längst entwachsen. Er wohnt mittlerweile - natürlich - in Monte Carlo, seine Freundin Maria Braccini ist Model und Influencerin mit über 100'000 Followern.
Er wirbt für Marken wie Rolex, Lavazza, Alfa Romeo oder Nike, modelt für Gucci und war schon zu Besuch im Ferrari-Werk in Maranello. Sinner ist mittlerweile ein Weltstar, wie er das in der relativ kleinen Welt des Skisports bei allen Erfolgen nie hätte werden können.
Die perfekten Eltern
In der Stunde des Triumphs dachte Sinner zuallererst an seine Wurzeln. «Ich danke meinen Eltern zuhause im Südtirol, wo es heute Morgen etwa minus 20 Grad kalt ist», sagte der sonst immer sehr kontrolliert auftretende Champion bei der Siegerehrung. Später erklärte er seine Beziehung zu den Eltern. «Ich sehe sie viel zu selten, aber wenn wir zusammen sind, ist es immer grossartig.»
Deren Einfluss ist kaum hoch genug einzuschätzen. «Sie sind die perfekten Eltern, wie auch mein Bruder.» Er kenne ja auch keine ändern, meinte er lachend. «Aber sie bringen Ehrlichkeit in mein Leben.» Sie waren das Gegenteil der berühmt-berüchtigten Tenniseltern, die ihre Kinder auf Schritt und Tritt begleiten. «Sie haben mich nie unter Druck gesetzt, mich immer machen lassen, was ich wollte.»
Eine Frage der Mentalität
Die Turnier Zeitung «La Stampa» suchte nach Lehren für das ganze Land: «Sinner kann ein Vorbild für unser Land sein. Er hatte die Geduld, ein grosses Resultat aufzubauen und den Mut, warten zu können.»
Für einen ehemaligen Skitrainer Sinners ist es die Berglermentalität, die den Star auch in der Glamourwelt des Tennis am Boden bleiben lässt. Sein Erfolg ist denn auch kein Märchen, sondern das Resultat von sehr viel Talent, harter Arbeit und einer ausgeglichenen Mentalität - und wird kaum einmalig bleiben. Denn wenn nichts Aussergewöhnliches dazwischen kommt, werden weitere Titel folgen.