Die ukrainische Nationalmannschaft lässt sich nicht unterkriegen
Zerbombte Häuserfassen, wo das Auge hinreicht. In einem Luftschutzbunker flimmert das Playoff-Spiel zwischen der Ukraine und Island über den Bildschirm. Männer in Tarnanzügen spielen Fussball, jonglieren Bälle, sitzen aufgereiht vor einem kleinen Smartphone. Ein Mann mit einer Kalaschnikow in der rechten Hand ballt die linke zur Faust und jubelt. Ein anderer wirft einen Ball in die Höhe - Schnitt - den Alexander Sintschenko mit der Brust annimmt. Über Viktor Zygankow gelangt der Ball zu Artem Dowbyk, der abschliesst. Am Ende reihen sich die Spieler auf und feiern.
«Eine Mannschaft steht auf dem Platz, weil eine Million unserer Fans auf dem Schlachtfeld sind.» Unter diesem Titel und hinterlegt mit pathetischer Musik veröffentlicht der ukrainische Fussballverband das Video am 17. Juni. Es ist der Tag des ersten Gruppenspiels. Und es soll einer mit Symbolkraft werden. Doch es kommt alles anders.
0:3 heisst es am Ende aus Sicht der Ukraine. Entfesselte Rumänen zeigen keine Gnade. Es ist nicht das gewünschte Signal, das die Mannschaft von Nationaltrainer Sergej Rebrow in die Welt und vor allem in die Heimat schickt.
Der beschwerliche Weg an die EM
Doch die Ukrainer wären nicht die Ukrainer, wenn sie sich von einem solch sportlichen Tiefschlag entmutigen liessen. Schon der Weg an die EM war beschwerlich. In einer äusserst stark besetzten Gruppe mit England und Italien, den beiden EM-Finalisten von 2021, blieb den Osteuropäern nur der dritte Rang. So mussten die Gelb-Blauen den Umweg über die Playoffs gehen.
Im Halbfinal drehten die Ukrainer gegen Bosnien-Herzegowina einen Rückstand in den letzten fünf Minuten. Gegen Island sicherten sie sich das Ticket für die Endrunde in Deutschland - wiederum nach Rückstand - erst sechs Minuten vor dem Ende. Und dies, obwohl viele der Meinung sind, dass die aktuelle ukrainische Nationalelf die beste aller Zeiten ist. Tatsächlich ist das Kader gespickt mit Spielern, die bei europäischen Topklubs unter Vertrag stehen. Arsenals Alexander Sintschenko etwa, der den Titel in England mit den Gunners nur knapp verpasst hat. Oder Michailo Mudryk, der unlängst für 100 Millionen Euro zu Chelsea gewechselt hat. Oder Artem Dowbyk, mit 24 Treffern Torschützenkönig in der spanischen La Liga.
Der Spagat zwischen Fussball und Krieg
Die glitzernde Welt des Profifussballs steht im Kontrast zur aktuellen Situation in der Ukraine. Während in anderen Ländern gerne von Ausnahmezustand gesprochen wird, wenn die Nationalmannschaft an einer Endrunde einen Sieg errungen hat, herrscht dieser in der Ukraine seit mehr als zwei Jahren. Seit dem Einmarsch der russischen Streitkräfte im Februar 2022 ist in der Ukraine nichts mehr, wie es war. Soldaten sind gefallen, Städte zerstört, viele Menschen vor dem Krieg geflüchtet.
Auch vor dem Fussball machte der russische Angriffskrieg nicht halt. Viele Klubs, vor allem im Osten des Landes, sind heimatlos geworden oder haben sich komplett aufgelöst. Die Länderspiele finden alle im Ausland statt. Die heimische Liga hat ihren Betrieb zwar wieder aufgenommen, aber stets vor beklemmender Kulisse. Viele Anhänger sind eh nicht mehr vor Ort. Verfeindete Ultras kämpfen vereint an der Front.
Der Krieg, er steckt in den Köpfen der Ukrainer. Daran kann auch eine Fussball-EM nichts ändern. Und doch sollen die Spiele der Nationalmannschaft den Menschen in der Heimat zumindest für 90 Minuten ein wenig Abwechslung im tristen Alltag bieten. «Die Jungs spielen Fussball für euch alle - und besonders für diejenigen Menschen, die weiterhin jeden Tag unser Land vor dem Feind verteidigen müssen», sagte Rebrow nach der erfolgreichen Qualifikation für die Endrunde. Bei dieser geht es nicht nur um Fussball, wie Verbandspräsident Andrej Schewtschenko klarstellte: «Wir sind auch hier, um zu zeigen, dass wir noch leben.»
Der scheinbar übermächtige Gegner
Das lange Zuspiel von Mykola Schaparenko, die perfekte Annahme von Roman Jaremtschuk, die sanfte Berührung des Stürmers für den Ball, der an Martin Dubravka vorbei über die Torlinie kullert - 2:1. Die Ukraine lebt. Es war ein symbolischer Sieg, den sie am zweiten Spieltag gegen die Slowakei errungen hat. Denn wieder lagen die Ukrainer in Rückstand, wieder kamen sie zurück, zeigten Comeback-Qualitäten.
«Aneinander glauben. Einander helfen. Füreinander kämpfen», liess Staatspräsident Wolodimir Selenski die Öffentlichkeit nach dem Sieg gegen die Slowakei wissen. «Es ist schwierig, nicht an den Krieg zu denken», sagte Goalie Anatoli Trubin. «Eine Leistung wie heute als Team ist eine überragende Botschaft an unsere Soldaten und für die Leute in der Heimat.»
Nun steht am Mittwoch (ab 18.00 Uhr) in Stuttgart das entscheidende Spiel um den Einzug in die K.o.-Phase an. Gegner ist das wiedererstarkte Belgien, dessen fussballerische Qualität jene der Ukraine deutlich übersteigt. Dass mit Mut, Leidenschaft und Wille aber auch scheinbar übermächtige Gegner im Zaum gehalten werden können, hat die Ukraine schon neben dem Fussballplatz bewiesen.