Die Schweiz will den Favoriten ärgern
Am Freitag finden in Stuttgart und Herzogenaurach Pressekonferenzen statt. In Stuttgart stellt sich der Schweizer Nationalspieler Ricardo Rodriguez den Medien, und die ersten Fragen drehen sich gleich um das bevorstehende Spiel gegen Deutschland. «Es ist das Thema bei uns», sagt der 31-jährige Verteidiger. «Es wird sicher ein schwieriges Spiel, aber wir freuen uns alle darauf und sind bereit dafür.»
Anders in Herzogenaurach, wo die Spieler Chris Führich und Deniz Undav zum Termin erscheinen. Laut «Kicker» dauert es ganze 23 Minuten, bis erstmals eine Frage zur Schweiz gestellt wird - notabene von einem Schweizer Reporter, der sich über das Desinteresse am kommenden Gegner wundert. «Wir interessieren uns natürlich für die Schweiz», wird Undav zitiert. «Wir haben gleich eine Besprechung, morgen dann noch eine - und dann haben wir den Gameplan fürs Spiel.»
Die beiden Ausschnitte charakterisieren das bevorstehende Duell treffend. Deutschland auf der einen Seite rechnet bereits mit dem Gruppensieg und beschäftigt sich eher mit den Gegnern, die ihnen in der K.O.-Phase in die Quere kommen könnten. Auf der anderen Seite die «kleinen Schweizer», die den Favoriten ärgern wollen.
Schweizer mit viel Bundesliga-Erfahrung
Dieses Ungleichgewicht folgt einer gewissen Logik. Deutschland, mit rund 85 Millionen Einwohnern bevölkerungsmässig fast zehnmal grösser als die Schweiz, ist seit jeher der «grosse Nachbar». Und gerade für Schweizer Fussballer ist es oft die erste Anlaufstelle, wenn sie ihre Karriere mit dem berühmten «Schritt ins Ausland» aufs nächste Niveau befördern wollen.
So lief es auch bei Rodriguez, der im Januar 2012 vom FC Zürich nach Wolfsburg wechselte. Dass die Sprache (fast) gleich bleibt und sich auch kulturell wenig ändert, sei ein Grund gewesen, erklärt er. Mit dieser Voraussetzung gestaltet sich der nächste Karriereschritt etwas angenehmer. Allerdings traf Rodriguez mit Felix Magath zunächst einen Trainer an, der für sein hartes Training bekannt ist. «Das hat mir gut getan», erinnert sich Rodriguez, «ich habe damals viel gelernt.»
Das sagen auch viele andere Schweizer Nationalspieler über ihre Zeit in Deutschland. Sieben Akteure des aktuellen Kaders spielen derzeit in der Bundesliga, zwölf weitere waren schon einmal bei einem Verein im Nachbarland aktiv. Das Training sei intensiver, das Spieltempo höher, die Gangart ruppiger: In Deutschland ist alles etwas grösser als in der Schweiz, wo die Super League noch immer als Ausbildungsliga bezeichnet wird.
Wenig Interesse an Testspielen
So geniessen die Duelle der Nationalmannschaften eine besondere Brisanz - zumindest aus Schweizer Sicht. In Deutschland ist das Interesse geringer. So liegt das letzte Testspiel bereits zwölf Jahre zurück. Damals, im Mai 2012, gewann die Schweiz in Basel 5:3, was in Deutschland zu einem medialen Aufschrei führte. Seitdem gilt: Die Bedeutung eines Sieges gegen die Schweiz ist gering, die Fallhöhe bei einer Niederlage umso grösser.
Das Ungleichgewicht zwischen den Verbänden zeigt sich auch in einem Deal vor sechs Jahren: 2018 warb der deutsche Verband die damalige Schweizer Nationaltrainerin Martina Voss-Tecklenburg ab. Als Teil der Abmachung forderte der Schweizerische Fussballverband unter anderem ein Länderspiel zwischen den Männer-Nationalteams. Diese «Schuld» hat der DFB bis heute nicht eingelöst.
Seit dem Testspiel-Sieg in Basel ist die Schweiz nur noch zweimal auf Deutschland getroffen: 2020 gab es im Rahmen der Nations League zwei Unentschieden. Damit würde sich die Schweiz am Sonntag zwar den zweiten Platz in der Gruppe sichern. Auch Rodriguez weiss jedoch, dass ein Sieg sogar der Gruppensieg bedeuten würde.
Neues Selbstverständnis
Der Verteidiger war seit 2014 bei jeder WM und EM dabei, die Schweizer qualifizierten sich immer für die K.o.-Phase. Auch deshalb hat sich das Selbstverständnis verändert. Man traut sich, den «Kampf um den Gruppensieg» auszurufen. Gleichzeitig ist klar, dass für einen Erfolg gegen die Deutschen alles passen muss. «Die deutsche Mannschaft ist überragend», sagt Rodriguez. «Wir müssen 90 Minuten konzentriert sein. Wenn du nicht wach bist, kann es sehr schnell gehen.»
Das Interesse an dem Spiel ist seit der Auslosung enorm: 1,2 Millionen Ticketanfragen sind bei der UEFA für die Begegnung in Frankfurt eingegangen. Eine Zahl, die nur beim Eröffnungsspiel und beim Final übertroffen wurde.