Bolla inmitten eines aufstrebenden Nationalteams
Als Bolla 2021 zu den Grasshoppers stiess, geschah dies nicht auf eigenen Wunsch. Eigentlich hatte der schnelle Aussenverteidiger gehofft, sich bei Wolverhampton in der Premier League durchzusetzen. Beim Team aus den West Midlands kam man jedoch zum Schluss, dass der junge Ungar noch nicht so weit sei, und schickte ihn zum Partnerklub nach Zürich.
Beim GC trainierte Bolla zwei Jahre unter Giorgio Contini, der nun Assistenztrainer im Schweizer Nationalteam ist. Contini machte Bolla schnell zum Stammspieler; in beiden Saisons gehörte er nach Einsatzminuten zu den Top 5 bei GC. So durfte Bolla im letzten Sommer die Vorbereitung mit Wolverhampton bestreiten, für einen Platz im Kader reichte es ihm aber erneut nicht. Stattdessen kehrte er als Leihspieler von Servette in die Super League zurück.
«Für mich war es der richtige Weg», sagt der 24-jährige Bolla, der davor bei verschiedenen Klubs in Ungarn gespielt hatte, zuletzt beim Fehervar FC, seinem Jugendverein. «In der ungarischen Liga ist das Niveau deutlich tiefer als in der Schweiz.» Hier habe er wichtige Fortschritte als Fussballer gemacht. Auch dank den europäischen Auftritten mit Servette in dieser Saison, die für Bolla 45 Partien in vier Wettbewerben und den Wechsel von der Abwehr ins Mittelfeld beinhaltete.
Ungarns Rückkehr in die europäische Spitze
Als Belohnung für seine Leistungen erhielt Bolla erneut das Aufgebot für das Nationalteam. Erste EM-Erfahrungen sammelte er bereits vor drei Jahren - allerdings blieb der frühere U21-Captain ohne Einsatz. Inzwischen steht er bei 16 Länderspielen, und hofft, in Deutschland sein EM-Debüt zu geben. Vielleicht bereits am 15. Juni in Köln im ersten Spiel gegen die Schweiz. Auf das Duell freue er sich enorm, sagt Bolla. «Es wird ein wegweisendes Spiel für das Turnier sein.» Er sieht die beiden Teams auf Augenhöhe.
Ungarn überzeugte in den letzten Jahren mit konstant guten Leistungen und schaffte auch immer mal wieder Exploits. Hervorzuheben ist die Nations League 2022/23, als Ungarn in der Gruppe mit Italien, Deutschland und England drei Siege feierte - darunter das glorreiche 4:0 im Wembley - und den ersten Platz nur um einen Punkt verpasste. Der deutsche Nationalspieler Joshua Kimmich hielt damals fest: «Ich kenne wenige Mannschaften, gegen die es unangenehmer ist anzutreten.»
Nach einer 44-jährigen Durststrecke nehmen die Magyaren bereits zum dritten Mal in Folge an einer EM teil. Davor musste das Nationalteam lange unten durch. Auch Bolla erinnert sich: «Als Kind hatte ich eigentlich nie ein ungarisches Vorbild.»
In Ungarn denkt man stattdessen immer noch gerne an die «Aranycsapat» zurück, die «goldene Elf», die nach dem Zweiten Weltkrieg mit Captain Ferenc Puskas den Weltfussball dominierte. Mit einer kurzen Ausnahme in den 1960er-Jahren divergierten seither Ansprüche und Realität. Selbst für die Spieler sei ein Aufgebot fürs Nationalteam bis vor ein paar Jahren eher lästig gewesen, sagt Bolla. «Jetzt ist das aber komplett anders.»
Mit italienischer Taktik zum Erfolg
Als zentralen Faktor für die erfreuliche Wende bezeichnet Bolla den Trainer Marco Rossi. Der 59-jährige Italiener musste in seiner Karriere lange hartes Brot essen. Zwischen 2003 und 2011 stand er bei Lumezzane, Aurora Pro Patria, Spezia, Scafatese und Cavese an der Seitenlinie - bei Teams, die vorwiegend in der Serie C spielten, der dritthöchsten Liga Italiens.
2012 zog es ihn nach Ungarn. Auf seine Motivation angesprochen, sagte Rossi, dass sein Grossvater immer von der ungarischen Wundermannschaft um Puskas geschwärmt habe. Bei Honved Budapest feierte Rossi 2017 schliesslich den ersehnten Erfolg; er führte den Klub zum ersten Meistertitel seit 24 Jahren. Ein Jahr danach erhielt er das Angebot, das ungarische Nationalteam zu betreuen.
Rossi sei detailversessen, sagt Bolla. «Die Trainings sind fast immer taktisch geprägt und dauern so lange, bis unser Trainer zufrieden ist.» Auch neben dem Platz, im Videoraum, verbringe das Team viele Stunden mit Analysen.
Ausgangslage ist günstig
Wie wohl sich Rossi fühlt, zeigt auch der Umstand, dass der Nationaltrainer im vergangenen Oktober die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Dies war ganz im Sinne der rechten Regierung um Ministerpräsident Viktor Orban, die den Sport - vor allem den Fussball - seit Jahren mit Millionen von Staatsgeldern unterstützt. Nach den stetigen Fortschritten in den letzten Jahren sind die Hoffnungen im Land gross, dass das Nationalteam auch wieder an einem Grossturnier auftrumpft.
An der letzten EM konnte Ungarn sein Potenzial nur andeuten und scheiterte in der starken Gruppe mit Portugal (0:2), Frankreich (1:1) und Deutschland (2:2). Nun ist die Ausgangslage günstiger. Das weiss auch Bolla: «Wir spielen seit einigen Jahren immer etwa in der gleichen Konstellation, kennen uns alle gut. Natürlich machen wir uns grosse Hoffnungen an dieser EM.»
Ob er danach in die Schweiz zurückkehrt, ist offen. Bei Servette stehen die Zeichen eher auf Abschied.