Belgiens omnipräsente Angst vor dem Versagen
Die Einladung kommt am Dienstagnachmittag. Der königliche belgische Fussballverband lädt am Mittwochmorgen zur Audienz, wobei dieses Vokabular doch etwas in Kontrast steht zu dem, was es dann ist.
Das Teamcamp der Belgier liegt während der Europameisterschaft in Freiberg am Neckar, einer Kleinstadt nördlich von Stuttgart. Die Spieler geniessen am Mittwoch trainingsfrei und müssen sich ergo für einmal nicht den Fragen der Medienschaffenden stellen, die Tag für Tag ins Jupiler Media Village reisen.
Tedescos eindrückliche Serie
Aber dafür sitzt da Frank Vercauteren, der Sportdirektor der Belgier. Ein schwarzer Vorhang trennt den Presseraum vom Eingangsbereich. Das Interesse ist gross, zahlreiche Medienschaffende haben ihre Aufnahmegeräte hingelegt, um ja kein Wort zu verpassen, das der 67-Jährige sagt. Als Spieler nannte man den früheren offensiven Mittelfeldspieler, der eigentlich François heisst, den «kleinen Prinzen». Jetzt verantwortet er als sportlicher Leiter die Erfolge der königlichen Nationalmannschaft.
Vercauteren hätte an diesem Mittwoch gerne erzählt, wie erfolgreich die «Roten Teufel» gespielt haben, seit Domenico Tedesco im Februar 2023 die Verantwortung als Trainer übernommen hat. In allen 14 Spielen unter dem 38-jährigen italienisch-deutschen Doppelbürger waren sie bis zur Europameisterschaft ungeschlagen geblieben, nur viermal hatten sie nicht gewonnen.
Doch dann kam die Partie am Montag gegen die Slowakei, und in die vorbehaltlose Zuversicht mischte sich bei belgischen Beobachtern wieder eine Prise Angst. Die Angst, an einem grossen Turnier doch wieder zu versagen.
Das unrühmliche Etikett
Nach dem 0:1 gegen die Slowaken kann so ein Treffen wie jenes mit Vercauteren wie ein erster Krisengipfel gelesen werden. Auch wenn der Verband bemüht ist, den Austausch in ein anderes Licht zu rücken, betont, dass es nicht im üblichen Setting einer Pressekonferenz mit Podium und Bestuhlung stattfinde, sondern in einem «ungezwungenen Rahmen.» Will heissen: Der Protagonist sitzt den Medienschaffenden nicht auf einem Podium, sondern auf Augenhöhe an einem Tisch gegenüber.
Doch aller innerarchitektonischen Kniffe zum Trotz - die kritischen Fragen an den Sportdirektor lassen sich nicht wegmoderieren. Die Frage zum Beispiel, welchen Einfluss der Ausgang des Turniers auf die Zukunft von Tedesco haben könnte. Natürlich primär im negativen Sinn. Es ist eine Frage, die zeigt, wie Hoch die Ansprüche in Belgien sind. Die frühere Weltnummer 1 will das unrühmliche Etikett, als einzige Nation, die einmal die Weltrangliste angeführt hat, nie einen Titel gewonnen zu haben, endlich loswerden. Und die Frage zeigt auch, wie schnell die Stimmung eben selbst nach einer eindrücklichen Serie der Ungeschlagenheit zu kippen droht.
Vercauteren reagiert gelassen. Er sagt: «Ich unterstütze zu 200 Prozent, was Domenico macht.» Der Chef weiss, dass der Trainer viel bewirkt und angestossen hat, seit er in Belgien übernommen hat. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Marc Wilmots, aktuell Sportchef bei Schalke, und Roberto Martinez, dem heutigen Nationaltrainer der Portugiesen, agiert Tedesco taktisch flexibel und scheut sich nicht davor, Stars der sogenannten goldenen Generation nicht zu berufen und stattdessen auf Jüngere zu setzen.
Die vielen Debütanten
Thibaut Courtois beispielsweise, den Torhüter von Champions-League-Sieger Real Madrid, der nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen wollte, nachdem Tedesco das Captainamt nicht ihm, sondern Romelu Lukaku übertragen hatte. Überhaupt sind im Vergleich zur letzten EM nur zehn Spieler von damals dabei. Frühere Teamstützen wie Dries Mertens, Michy Batshuayi, Christian Benteke und Thorgan Hazard hat Tedesco allesamt ausgemustert. Allein 2023 debütierten neun Spieler im Nationalteam - so viele, wie seit vier Jahren nicht mehr.
Vercauteren ist bemüht, die Diskussionen nicht grundsätzlich werden zu lassen. «Wenn wir unsere Chancen gegen die Slowakei genutzt hätten, hätte es ganz anders kommen können.» Es ist eine vielfach wiedergegebene Binsenweisheit, die im Zusammenhang mit dem belgischen Nationalteam immer wieder insbesondere auf einen Spieler projiziert wird: Romelu Lukaku.
Lukaku als Sinnbild
Der 31-Jährige ist Belgiens Rekordtorschütze. In seinen 116 Einsätzen hat er 85 Treffer erzielt. Was aber gerade in Phasen des Misserfolgs viel mehr in der kollektiven Wahrnehmung haften bleibt als die Tore, sind die Momente, als der Ball eben gerade nicht im Tor gelandet ist. Gegen die Slowaken traf Lukaku zweimal in der zweiten Halbzeit. Der erste Treffer wurde wegen Offsides aberkannt, der zweite kurz vor Schluss, weil Lois Openda zuvor ein Handspiel begangen hatte. Und auch sonst erspielte sich der Stürmer, der zuletzt an die AS Roma ausgeliehen war, zahlreiche Möglichkeiten, die er ungenutzt liess.
Es sind Vorkommnisse, die Erinnerungen wecken an die WM 2022 in Katar. Auch damals vergab Lukaku im letzten Gruppenspiel gegen Kroatien teils vorzügliche Chancen kläglich. Am Ende stand es 0:0, und Belgien schied nach der Vorrunde aus.
Dieses Schicksal soll den «Roten Teufeln» diesmal keineswegs widerfahren. Am Samstag gegen Leader Rumänien muss Belgien in Köln punkten, um nicht wirklich in die Bredouille zu geraten. Kein Grund zur Sorge für Frank Vercauteren. Der Sportdirektor sagt: «Nein, wir beschäftigen uns nicht damit, was wäre, wenn wir das zweite Spiel verlieren. Das wäre nur negatives Denken.»