Von einem Jungen, der die Geschichten Sterbender sammeln muss
Wenn der Dalai Lama stirbt, wird unter den Novizen in Tibet seine Reinkarnation gesucht und noch in zartem Kindesalter zum Nachfolger bestimmt. Ähnlich läuft es im italienischen Bergdorf Gruma mit dem «Geschichtenabnehmer», einer Art Sterbebegleiter. Es gibt auch für den kleinen Walter kein Entrinnen: Nachdem ihn die herrische Zia Filina auserwählt hat, ist sein Schicksal besiegelt.
Geht es im Dorf mit einem Menschen zu Ende, wird Walter gerufen, um still den letzten, heimlichsten und schwierigsten Geschichten des Sterbenden zu lauschen. Danach kann dieser erleichtert von der Welt scheiden. In Walter aber leben die Geschichten weiter. Er wird sie nie mehr los. Walter hört Stimmen in seinem Kopf, immer mehr Stimmen, er sieht den Lebenden schon ihre Totenfratzen an, riecht selber nach Tod und meint, verrückt werden zu müssen.
Was für ein grausamer Brauch, denkt man beim Lesen voller Mitleid mit dem armen Jungen. Gleichzeitig taucht man fasziniert ein in Grumas verschlungene Lebens- und Liebesgeschichten. Mit der Funktion des «Geschichtenabnehmers» hat Vincenzo Todisco, dessen Eltern einst aus Italien in die Schweiz eingewandert sind, in seinem gleichnamigen Roman den idealen Rahmen für ein archaisches Sittengemälde geschaffen.
Gut, lehnt sich Walters Mutter eines Tages auf, sprengt diesen Rahmen und verschwindet mit ihrem Sohn. Doch der muss seine eigene Geschichte erst noch erfinden.*
*Dieser Text von Tina Uhlmann, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.