Ursula Deiss gestaltet Bilder, die live unmöglich sind
Eben waren die Häuserblocks und Silos am Horizont noch da. Nun sind sie verschwunden, wie ausradiert. Zurück bleibt eine idyllische Ackerlandschaft. Ursula Deiss sitzt vor dem Computer und schiebt den Regler über einen Ausschnitt aus «Papa Moll» (2017). An anderen Stellen der Verfilmung des Schweizer Comics aus der Nachkriegszeit hat die Visual Effects-Verantwortliche einen allzu modernen Kamin herausgelöscht, einen Sonnenuntergang hingezaubert und Haselnüsse durch die Luft fliegen lassen.
Im Halbdunkel ihres Studios bei der Firma Cinegrell in Oerlikon, wo die Vorhänge den ganzen Tag zugezogen sind, arbeitet Ursula Deiss auf mehreren Monitoren an ihren Aufträgen. Die Szenen landen in der Regel in der geschnittenen Version bei ihr, bevor sie zur Ton- und Farbkorrektur weitergehen. Visual Effects, kurz VFX, umfassen ebenso Korrekturen und Verfeinerungen der Bilder wie optische Spezialeffekte.
Fasziniert von «Metropolis»
Die Haselnüsse waren besonders knifflig: In jener Szene verursachen die Moll-Kinder in einer Schokoladenfabrik eine Explosion, bei der Hunderte Nüsse in eine Scheibe fliegen. Weil in echt keines der Geschosse im Glas stecken blieb, simulierte Ursula Deiss dies am Computer. Jede Nuss musste einzeln platziert werden. «Da waren auch die Kollegen beim Ton lange dran», sagt sie amüsiert.
Solche schwierigen Fälle entlocken der 54-jährigen Gestalterin aus Zürich ein freudiges Grinsen, statt sie aus der Ruhe zu bringen. Ohne Flair für Details und öfter auch Sisyphusarbeit wäre sie in ihrem Job aufgeschmissen. «Mich haben die Illusionen, die in Filmen möglich sind, früh fasziniert», sagt Ursula Deiss. Sie erinnert sich an das Aschenbrödel-Märchen, wo Kleider aus – ebenfalls – Haselnüssen ploppen, und an Fritz Langs «Metropolis» (1927), wo Lichtringe eine Menschmaschine erwecken.
Augenringe, Action, Wolken
VFX-Macherinnen und -Macher füllen die Leerstellen von neutralen Studiohintergründen, sogenannten Green- oder Bluescreens. Die Effektkünstler fügen Elemente in Bilder ein, die live nicht möglich sind. Ursula Deiss zeigt einige ihrer Werke aus Schweizer «Tatort»-Folgen. Bei Schiessereien kreierte sie etwa die Explosionen, Einschüsse und prasselnden Patronenhülsen. Ein weiterer Fall für sie waren bei einer Autofahrt durch die Nacht die verschwommenen Hintergründe der Fenster und eine Leiche, die plötzlich auf die Frontscheibe knallt.
Für Retuschen kommen auch ungleich geschminkte Augenringe zu ihr oder Blutstropfen, die realistischer verschmiert und getrocknet werden sollten. Veränderungen von Haut und Haaren seien digital allerdings schwieriger zu bewerkstelligen als auf dem Dreh, so die ausgebildete visuelle Gestalterin: «Manchmal wird zu viel auf die Nachbearbeitung abgeschoben.»
Oft geht es bei ihrer Arbeit um wenige Sekunden. Die Filmlänge darf sich mit den Effekten nicht verändern. «Ich muss überlegen, wie ich von Einstellung A zu Einstellung B gelange, dass es fliessend und logisch aussieht», erklärt Ursula Deiss.
Bei Filmen, die sie für Restaurierungen und Digitalisierungen bearbeitet, kommen ethische und technikhistorische Fragen hinzu. Seltener passiert es, dass Filmschaffende dabei ihre älteren Werke «verbessern» wollen. Wie ein Regisseur, der sich in der Schlusseinstellung mehr Wolken am Himmel wünschte. Er sagte, mit dem Original sei er nie glücklich gewesen.
Paris in Zürich
Der erste Spielfilm, für den Ursula Deiss die visuellen Effekte gestaltet hat, ist «Mein Name ist Eugen» (2005). Damals war sie als VFX-Supervisor noch an den Greenscreen-Aufnahmen dabei. Heute erledigt sie alles im Büro.
Dort pröbelt sie zurzeit gerne mit künstlicher Intelligenz. «Ich finde es spannend zu sehen, was die Programme können und wo ihre Grenzen liegen», sagt sie. Bildfehler etwa entdecke KI schneller und genauer als Menschen. Im Erfinden bewegter Bilder seien die Rechner dagegen noch keine Genies.
Ursula Deiss sieht die neue Technologie nicht als Konkurrenz, sondern als Komparse. «Das ist doch witzig, wenn ich dem Tool einfach befehlen kann: Tausche das Fraumünster mit dem Eiffelturm!» Hinter den Vorhängen ihres Studios vermischen sich in der Vorstellung kurz Zürich und Paris.
In die Welten, an denen die VFX-Künstlerin schraubt und pinselt, taucht sie jeweils selbst etwas ein. «Das gehört zu den schönsten Seiten des Jobs», sagt sie. Auch wenn sie erst Monate später, im Kino oder im Wohnzimmer, die ganze Geschichte sieht.*
*Dieser Text von Céline Graf, Keystone-SDA wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.