“Antier Noche” ist eine Trance im Nirgendwo
Juan Francisco Cambero Domínguez lässt sein Haar wachsen. Es ist eine symbolische Geste, wie er sagt, seine Grossmutter ist an Krebs gestorben, Juan Francisco liess seines wachsen, als ihres begann, auszufallen. Grossvater hatte ebenfalls langes Haar, als er jung gewesen war.
Bereits der Einstieg zu “Antier Noche” ist von einer Melancholie und Traurigkeit geprägt, die sich durch den ganzen Film durchziehen wird. Und von Schönheit. Das Langfilmdebüt des Wahlgenfers Alberto Martín Menacho ist eine Liebeserklärung ans Leben. An das einfache Leben, das prall gefüllt in sanften Farben seinen Lauf nimmt.
“Antier Noche” ist ein Dokumentarfilm, scheinbar ruhig, und fast ein wenig bedächtig. Handlung ist trotzdem auszumachen, der Film nimmt schnell Fahrt auf, man findet sich sofort wieder im südspanischen Dorf (“kleine Stadt”, sagt Juan Francisco), umgeben von tausendjährigen Eichen und Sonnenkollektoren. Es ist auch die Geschichte von Santi, die an ihrem ersten Track feilt, während sich Antonio um seine Tiere kümmert. Pepa ist eine junge Mutter, die als Saisonarbeiterin in einem Schlachthof arbeitet. Der Einblick in das Leben dieser jungen Menschen zeigt ein Land, wo sich Hase und Esel (und auch mal ein streunender Hund!) “Gute Nacht!” sagen, ein Ort der Liebesgeschichten, der Waldbrände und der Rave-Partys. Manchmal baden die Menschen im Fluss und sitzen auf grossen, vom Wasser gerundeten Steinen herum.
Eine schöne, kahle Welt
Niederschwellig ist dieses von Kontrasten, oft in Pastellfarben getauchtes Filmjuwel nicht. Tatsächlich muss man sich einlassen, einlassen wollen, auf diese kahle Welt, in der die Menschen manchmal wie Playmobilfiguren dasitzen. Dass alles eng verbunden ist, spürt man mehr, als dass man es sieht, Mensch, Tier, Arbeit, Freizeit, Leben, Tod. Man muss sich einlassen auf das Gewehr, das Juan Francisco geerbt hat, und mit dem er auf Sardinenbüchsen schiesst, minutenlang. Vielleicht muss man auch mal Jackenmuster studieren, oder die eintönigen Einbuchtungen an den Wänden, oder dem Hasen beim Hoppeln zuschauen. Ist man aber drin in dieser Welt, wird einem ganz schummrig. So schön ist sie.
“Antier Noche”, sagt Alberto Martín Menacho, “ein Ausdruck, den ich meine Grossmutter oft benutzen habe hören. Er bezieht sich auf ein Ereignis, das in der vorletzten Nacht stattgefunden hat. Es ist eine alte Redewendung.” Sein Film, sagt er, sei aus dem Wunsch heraus entstanden, in einer “vergessenen Ecke der Welt”, in der Extremadura, Filme zu machen. “In einer Region, die ich zutiefst liebe.” Seit seiner Kindheit sei er nach Salvaleón, seinem Heimatort, gefahren, einem kleinen, versteckten Ort im Südwesten der Iberischen Halbinsel. Der Regisseur ist in Madrid aufgewachsen - und vor rund zehn Jahren nach Genf ausgewandert. Seinen Film bezeichnet er als “soziologisches Märchen über kulturelles Erbe in einer ländlichen Umgebung”, unter anderem.
Märchenhafte Bilder und starke Gegensätze
Märchenhaft sind sie, die poetischen Bilder. Sie leben von Komplementärfarben einerseits und überhaupt von Kontrasten. Stets in ein warmes, rundes Licht getaucht, fängt “Antier Noche” scheinbar mühelos die innere Zerrissenheit der Protagonistinnen ein. Die selbst am Rave, verliebt, einsam oder einfach tanzend, noch eine Gelassenheit ausstrahlen, um die man sie als Zuschauerin beneidet. Polarität ist aber nicht nur in den Farbtönen auszumachen und in den Seelen der Jugendlichen.
Logischerweise ist auch die Handlung, wenn man so will, sind die Szenenwechseln von Gegensätzen geprägt. Im einen Moment steht ein Esel, beladen mit Korkblättern von Korkeichen im Feld, sonst nichts, Insekten sind zu hören, das Gras tänzelt im heissen Wind. Im nächsten Augenblick wird richtig getanzt, Lichter blenden, flackern auf, eintönig der Bass, die jungen Körper zucken, Muster und Klänge überlagern und jagen sich im Track.
Es ist eine Art Trance, sie zieht sich durch den ganzen Film, und sie öffnet Herzen.
*Dieser Text von Nina Kobelt, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.