Selenskyj sieht Ukraine in Russland weiter auf dem Vormarsch
«Stand heute kontrollieren unsere Kräfte mehr als 1.250 Quadratkilometer Territorium des Feindes und 92 Ortschaften», sagte Selenskyj bei einem Auftritt vor ukrainischen Diplomaten und Beamten. Ein taktisches Ziel, die Gefahr für die ukrainische Grenzregion Sumy zu verringern, sei damit erreicht. Zudem sei die Offensive der grösste Erfolg bezüglich der Gefangennahme russischer Soldaten seit Kriegsbeginn, sagte Selenskyj.
Seinen Angaben nach sollen die Russen später gegen kriegsgefangene Ukrainer ausgetauscht werden. Im bisherigen Kriegsverlauf hat Russland nach Einschätzung von Beobachtern mehr Ukrainer gefangen genommen als umgekehrt.
Selenskyj: Offensive hätte niemand für möglich gehalten
Selenskyj bezeichnete die Offensive als grossen Erfolg. Vor ein paar Monaten habe dies niemand für möglich gehalten. Kritiker hätten allein Gedankenspiele dieser Art als Überschreiten der «rotesten aller roten Linien Russlands» abgelehnt, gab er zu bedenken. Darum seien die Vorbereitungen auch im Geheimen getroffen worden. Der jetzige Erfolg zeige aber deutlich Wladimir Putins Unfähigkeit, sein Territorium zu schützen vor solchen Gegenangriffen. Zudem habe der ukrainische Vorstoss auch zu einem Umdenken bei den westlichen Partnern geführt, meinte Selenskyj, der von seinen Diplomaten weiter ein aktives Einwerben von Waffenhilfe forderte.
Selenskyjs Angaben zu dem Vorstoss gehen über die meisten bisherigen Schätzungen von Militärbeobachtern hinaus. So hatte vor wenigen Tagen das unabhängige Internetportal «Meduza» auf Grundlage von Foto- und Videomaterial im umkämpften Gebiet Kursk die Geländegewinne auf 862 Quadratkilometer geschätzt. Allerdings räumen die meisten Experten selbst die Ungenauigkeit ihrer Schätzungen ein. Vor allem die ukrainischen Streitkräfte veröffentlichen sehr wenig, um ihren Vormarsch nicht zu gefährden.
Nach Einschätzung des Militäranalysten Jan Matwejew laufen die russischen Truppen südlich des Flusses Sejm zudem Gefahr, eingekesselt zu werden. Die ukrainischen Streitkräfte haben nach eigenen Angaben zwei Brücken über den Fluss zerstört oder zumindest schwer beschädigt. Zudem gibt es bislang offiziell noch unbestätigte Berichte über eine dritte zerstörte Brücke. Solche Schäden würden die Versorgung der russischen Truppenteile, aber zugleich auch einen eventuellen Rückzug massiv erschweren, argumentierte Matwejew.
Putin schliesst Verhandlungen mit der Ukraine derzeit aus
Während Kiew sich durch die Gegenoffensive eine bessere Verhandlungsposition erhoffen könnte, schaltet Kremlchef Wladimir Putin auf stur. Er will nach Angaben aus Moskau nicht mehr verhandeln. «Der Präsident hat sehr deutlich gesagt, dass nachdem die Angriffe, genauer gesagt die Invasion im Gebiet Kursk begonnen hat, von Verhandlungen keine Rede sein kann», sagte Russlands Aussenminister Sergej Lawrow am Rande von Putins Besuch in Aserbaidschan im russischen Staatsfernsehen. Putin werde zudem in Kürze eine Einschätzung der Lage geben, kündigte Lawrow an.
Berichte über Kontakte zwischen den Kriegsparteien, die von Mittlern wie Katar oder der Türkei hergestellt worden seien, seien nichts weiter als Gerüchte, erklärte Lawrow weiter.
Ukrainer im Osten unter Druck
Während die ukrainischen Truppen auf russischem Gebiet vorankommen, bleibt die Lage an der Front im Osten des eigenen Landes schwierig. Am Montag habe es auf ukrainischem Gebiet 154 Gefechte gegeben, meldete der Generalstab in Kiew in seinem abendlichen Lagebericht. Wichtigste Angriffsrichtung der Russen bleibt dabei der Raum Pokrowsk im Gebiet Donezk, wo mehr als ein Drittel der Angriffe stattfanden. Laut Generalstab wurden allein dort mehr als 300 russische Soldaten getötet oder verletzt. Unabhängig lassen sich diese Angaben nicht überprüfen.
Vor allem die Angriffe aus der Luft machen den ukrainischen Soldaten weiterhin zu schaffen. Im Lagebericht ist von 71 russischen Luftschlägen und dem Abwurf von 86 gelenkten Gleitbomben die Rede. Daneben seien zahlreiche Kamikaze-Drohnen gegen ukrainische Stellungen, aber auch Siedlungen eingesetzt worden, heisst es.
Washington: Vorstoss in Kursk-Region ändert nichts an Hilfe
Die ukrainische Gegenoffensive in der Region Kursk ändert nach Angaben des Pentagons nichts an der Unterstützung der USA für Kiew. US-Präsident Joe Biden habe «sehr deutlich gemacht, dass wir die Ukraine weiterhin und dauerhaft unterstützen und ihr zur Seite stehen werden, solange es nötig ist», sagte eine Sprecherin des US-Verteidigungsministeriums. Das bedeute auch, dass sich die Art und Weise der Hilfe nicht geändert habe. Man unterstütze Kiew weiter vorrangig mit der Lieferung militärischer Ausrüstung.
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin habe seinem ukrainischen Kollegen Rustem Umerow in einem Gespräch am Montag die weitere Unterstützung der USA zugesichert, sagte Sprecherin Sabrina Singh weiter. In dem Austausch habe Austin auch ein besseres Verständnis dafür bekommen, was die Ukraine mit der Gegenoffensive erreichen wolle. Die Sprecherin wollte sich auf Nachfrage nicht dazu äussern, ob Washington Kiew zusätzliche Satelliteninformationen zur Verfügung stelle. Sie wolle nicht über öffentlich über einen Austausch von Geheimdienstinformationen mit den Ukrainern sprechen, sagte sie. «Aber wir haben diese Beziehung zu ihnen.»
Nächtliche Drohnenangriffe
Drohnenangriffe wurden auch in der Nacht wieder in zahlreichen ukrainischen Regionen weitab der Front gemeldet. Laut der Flugabwehr waren so die Gebiete Sumy, Poltawa, Cherson und Mykolajiw im Visier. Auch im Umland der Hauptstadt Kiew war die Flugabwehr im Einsatz. Die Gebietsverwaltung rief die Einwohner dazu auf, Schutzräume aufzusuchen. Schäden sind bislang nicht bekannt.
Das wird am Dienstag wichtig
Chinas Ministerpräsident Li Qiang kommt zu einem offiziellen Besuch nach Russland. Li Qiang ist vom 20. bis 22. August auf Einladung seines Kollegen Michail Mischustin in Moskau. Er soll auch von Putin empfangen werden. China gilt als wichtigster Partner Russlands. Moskau ist nach Beginn seines Angriffskriegs in Abhängigkeit von Peking geraten. China hat im Gegensatz zu Europa und den USA Russlands Krieg nicht verurteilt und ungeachtet der westlichen Sanktionen den Handel mit seinem Nachbarn ausgebaut.