Neues Papier könnte Diskussion über deutsche «Ampel» anheizen
«Deutschland braucht eine Neuausrichtung seiner Wirtschaftspolitik», hiess es darin. Diese solle grundsätzlicher Art sei. Das Papier hat den Titel «Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für mehr Wachstum und Generationengerechtigkeit.» Es liegt der Deutschen Presse-Agentur vor. Zuerst hatte der «Stern» darüber berichtet.
In dem Papier ohne Datum wird eine «Wirtschaftswende» gefordert mit einer «teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen», um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden. Die deutsche Wirtschaft ist in einer Wachstumskrise. Eine Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik könne das Vertrauen von Unternehmen und privaten Haushalten stärken.
Herbst der Entscheidungen
Die FDP fordert seit längerem eine «Wirtschaftswende» und hat den «Herbst der Entscheidungen» ausgerufen. Auch Forderungen wie eine vollständige Soli-Abschaffung sind grundsätzlich bekannt. Der Zeitpunkt des neuen Papiers ist aber brisant.
Erst vor anderthalb Wochen hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erneut einen milliardenschweren, schuldenfinanzierten Staatsfonds vorgeschlagen, um Investitionen von Firmen zu fördern. Die FDP lehnt dies unter Verweis auf die Schuldenbremse ab.
Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte zu einem Industriegipfel eingeladen, zu dem aber weder Habeck noch Lindner eingeladen wurden. Die FDP-Fraktion hatte eine Art Gegengipfel mit Verbänden veranstaltet. Scholz plant - ebenso wie die FDP - noch weitere Treffen in etwa dem bisherigen Format. Am Ende will der Kanzler einen «Pakt für die Industrie» erreichen, das Ergebnis soll noch vor Weihnachten stehen, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit ankündigte.
Erst im Juli hatte die Bundesregierung eine «Wachstumsinitiative» angekündigt. Das Paket mit vielen Massnahmen ist aber noch nicht umgesetzt worden.
Verschiedene Massnahmen gefordert
Konkret ist in Lindners jetzigem Papier von einem sofortigen Moratorium zum Stopp aller neuen Regulierungen die Rede. Neue Gesetzesvorhaben sollten entweder ganz entfallen oder, wo dies nicht möglich sei, so ausgestaltet sein, dass Bürokratie und Regulierung durch das Vorhaben sinken und keinesfalls steigen. Genannt werden in diesem Zusammenhang zum Beispiel Pläne von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für ein Tariftreuegesetz sowie das Lieferkettengesetz.
Weiter heisst es, als Sofortmassnahme sollte der Solidaritätszuschlag, der überwiegend von Unternehmen, Selbstständigen, Freiberuflern sowie Hochqualifizierten gezahlt werde, entfallen. Er sollte in einem ersten Schritt im Jahr 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf 3 Prozent abgesenkt werden. In einem zweiten Schritt könnte er im Jahr 2027 dann vollständig entfallen. Der Soli wurde für 90 Prozent der Steuerzahler bereits abgeschafft.
Weiter heisst es im Papier, nationale müssten durch europäische Klimaziele ersetzt werden. «Es hilft dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen.» Deutschland solle auf europäischer Ebene insbesondere die Abschaffung der Regulierungen zur Energieeffizienz, Gebäudeenergieeffizienz und der Flottengrenzwerte für Autokonzerne durchsetzen.
Haushalt wegweisend
Als wegweisend für den Fortbestand der Koalition aus SPD, Grünen und FDP gilt die sogenannte Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses, die für den 14. November geplant ist. Dort wird über den Haushalt 2025 entschieden.
Spekulationen über eine vorzeitige Auflösung der Ampel-Koalition trat Regierungssprecher Hebestreit am Freitagmittag - vor Bekanntwerden des neuen Lindner-Papiers - zurück. «Ich habe nicht den Eindruck, dass irgendwer dabei ist, sich in die Büsche zu schlagen», sagte Hebestreit in Berlin. Er machte deutlich, «dass man konstruktiv die nächsten knapp elf Monate bis zum regulären Wahltermin für die nächste Bundestagswahl miteinander zusammenarbeiten wird».
Im Papier Lindners ist mit Blick auf bestehende Milliardenlücken im Haushaltsentwurf von der Notwendigkeit einer weiteren Senkung der Ausgaben die Rede.
Der Regierungsentwurf des Bundeshaushalts 2025 und der Finanzplan bis 2028 unternähmen Schritte zur «quantitativen Normalisierung und qualitativen Verbesserung des Bundeshaushalts». Mit Blick auf die gesenkte Konjunkturprognose und die trübere Steuerschätzung heisst es, diese Schritte seien nicht ausreichend.
Im Papier heisst es, der höhere Verschuldungsspielraum durch die Anpassung der sogenannten Konjunkturkomponente der Schuldenbremse müsse ausschliesslich zum Ausgleich der Mindereinnahmen verwendet werden.
Gegen Subvention für Intel
Die geplante Subvention für Intel sollte nicht nur verschoben werden, sondern ganz entfallen, heisst es im Papier. Die bisher gebundenen Mittel von insgesamt 10 Milliarden Euro könnten aus dem Klima- und Transformationsfonds entnommen werden - das ist ein Sondertopf des Bundes. Der kriselnde Chipkonzern Intel hatte den Bau eines Werks in Magdeburg verschoben.
Migrationspolitik und Bürgergeld
Im Papier ist die Rede von einer «Wende in der Asyl- und Arbeitsmarktpolitik». Durch eine niedrigere Zahl der Asylerstanträge fielen die Zahlungen an Länder und Kommunen zur Unterstützung durch den Bund niedriger aus.
Die Bürgergeld-Regelsätze seien 2024 überproportional gestiegen. «Sie liegen im Jahr 2025 weiter über dem Bedarf und sollten daher durch die Abschaffung der «Besitzstandsregelung» abgesenkt werden, um Arbeitsanreize zu stärken.» Weiter heisst es im Papier, Abschläge bei frühzeitigem Renteneintritt sollten angepasst werden.
Erinnerungen an ein uraltes FDP-Papier
Berichte über ein FDP-Wirtschaftspapier wecken in Deutschland vage Erinnerungen an das Jahr 1982, als der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff (FDP) den Bruch der sozialliberalen Koalition herbeiführte. Anders als heute gab es für die Liberalen damals aber eine andere Machtoption: Gemeinsam mit den Christdemokraten stürzten sie Kanzler Helmut Schmidt (SPD) per Misstrauensvotum und wählten Oppositionsführer Helmut Kohl (CDU) zum Kanzler. FDP und CDU/CSU hätten derzeit keine Mehrheit im Bundestag.