Israel fliegt nach Beschuss massive Angriffe im Libanon
Das militärische Vorgehen vergrössert die Sorge vor einer möglichen Bodenoffensive Israels im Süden des Nachbarlands. Der jüdische Staat will die Hisbollah, die Israel das Existenzrecht abspricht, wieder aus dem Grenzgebiet verdrängen, um die Sicherheit seiner Bürger im Norden zu gewährleisten.
Nach den schweren Luftangriffen forderte die israelische Armee Bewohner mehrerer Gemeinden und Städte im Norden Israels auf, sich in der Nähe von Luftschutzbunkern aufzuhalten. Zivilisten sollen sich zudem am Wochenende von militärischen Übungsgebieten im Norden fernhalten. Das Militär werde dort «Aktivitäten» ausführen, für Unbefugte herrsche daher Lebensgefahr. «Es ist möglich, dass in nahegelegenen Ortschaften Schüsse und Explosionen zu hören sein werden», hiess es in einer Mitteilung der Armee.
Sorge vor möglicher Bodenoffensive
Die genaue Bedeutung der Anweisung war zunächst unklar. Im Libanon herrscht die Sorge, Israel könnte eine Bodenoffensive im Süden des Landes vorbereiten. Im Fall eines solchen Einsatzes müssten im Norden Israels Truppen zusammengezogen werden. Die Armee werde weiterhin die Infrastruktur und die Fähigkeiten der Hisbollah schwächen, um den Staat Israel zu verteidigen, teilte die israelische Armee weiter mit. Den Angaben nach wurden auch «Terror-Infrastruktur» und ein Waffendepot der Hisbollah im Südlibanon attackiert.
Vertreter des israelischen Militärs wollten Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Abend bei Sicherheitsberatungen Pläne für die Nordfront vorstellen, berichteten israelische Medien. Wie die «Times of Israel» aus Militärkreisen erfahren haben will, möchte die Armee die Rückkehr der Zehntausenden aus dem Norden Israel geflüchteten Bewohner in ihre Häuser erreichen, ohne jedoch den Konflikt mit der Hisbollah zu einem regionalen Krieg auszuweiten. Israel hatte kürzlich die Rückkehr der Bewohner in den Norden zu einem Kriegsziel erklärt.
Erneut Tote bei gegenseitigem Beschuss
Die umfangreichen Luftangriffe erfolgten nach einem schweren Raketenbeschuss aus dem Libanon auf Gemeinden im Norden Israels, wie die «Times of Israel» berichtete. Zwei israelische Soldaten wurden getötet - laut Armee ein 20 Jahre alter Soldat und ein 43 Jahre alter Reservist. Dem Zeitungsbericht zufolge starb der Reservist durch eine mit Sprengstoff beladene Drohne der Hisbollah, der jüngere Soldat bei einem Angriff der Hisbollah mit zwei Panzerabwehrraketen. Acht weitere Soldaten seien verletzt worden, hiess es.
Während des gegenseitigen Beschusses lief im libanesischen Fernsehen eine Rede des Generalsekretärs der Hisbollah, Hassan Nasrallah. Darin nahm er Bezug auf die tödlichen Angriffe auf Kommunikationstechnik seiner Miliz, warf Israel versuchten Völkermord vor und kündigte Vergeltung an. «Innerhalb von zwei Tagen und binnen einer Minute pro Tag hat Israel darauf abgezielt, mehr als 5.000 Menschen zu töten», sagte er. «Dieser kriminelle Akt kommt einer Kriegserklärung gleich.» Mindestens 37 Menschen kamen bei den Explosionen manipulierter Pager und Handfunkgeräte am Dienstag und Mittwoch nach Behördenangaben ums Leben. Rund 3.000 weitere wurden demnach verletzt.
Hisbollah-Chef kündigt Vergeltung an
Israel hat sich bislang nicht öffentlich zu den Angriffen bekannt. Nicht nur Nasrallah, auch Militär- und Geheimdienstexperten sehen Israel als Drahtzieher hinter den Explosionen. «Kurzfristig ist dies eine ausserordentliche taktische Leistung», sagte Eyal Pinko, ein ehemaliger israelischer Geheimdienstmitarbeiter, dem «Wall Street Journal». «Langfristig gesehen bringt das keinen militärischen oder politischen Erfolg», meinte er.
Nasrallah kündigte an, den Beschuss Nordisraels fortzusetzen. Der «Widerstand im Libanon» werde seine Angriffe auf Israel nicht einstellen, bevor die «Aggressionen (Israels) gegen Gaza» aufhörten, sagte er in seiner im Fernsehen übertragenen Rede. Israel könne erst dann wieder Menschen in Sicherheit in den Norden zurückkehren lassen, wenn der Krieg im Gazastreifen gestoppt werde. Die Hisbollah handelt nach eigener Darstellung aus Solidarität mit der islamistischen Hamas in dem Küstengebiet. Beide Gruppen werden von der Islamischen Republik Iran unterstützt, deren Staatsführung Israel als Erzfeind betrachtet.
Bericht: Keine Einigung bei Gaza-Verhandlungen in Sicht
Die Verhandlungen über ein Ende des Gaza-Kriegs, bei denen die USA, Ägypten und Katar zwischen Israel und der Hamas vermitteln, drehen sich jedoch seit Monaten im Kreis. Ranghohe US-Beamte räumten inzwischen in privaten Gesprächen ein, dass sie während der Amtszeit von US-Präsident Joe Biden, die im Januar enden wird, keine Einigung zwischen Israel und Hamas mehr erwarten, berichtete das «Wall Street Journal». «Eine Einigung steht nicht unmittelbar bevor», sagte einer der US-Beamten. «Ich bin mir nicht sicher, ob es je zustandekommt.»
Israel will derweil durch militärischen und diplomatischen Druck erreichen, dass der Beschuss des Nordens aufhört und die Hisbollah sich hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht - so wie es eine UN-Resolution vorsieht. Danach sollen rund 60.000 Menschen, die sich aus der Region an der Grenze zum Libanon in andere Landesteile in Sicherheit bringen mussten, in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren können. Israels Verteidigungsminister Joav Galant kündigte an, Israel werde die Angriffe auf die Hisbollah fortsetzen. «Die Serie unserer Militäraktionen wird weitergehen», sagte er. «Mit der Zeit wird die Hisbollah einen wachsenden Preis zahlen.»
Der fast tägliche gegenseitige Beschuss hat sich zu einem niedrigschwelligen Krieg entwickelt. Im Libanon wurden nach amtlichen Angaben bereits etwa 600 Menschen getötet, die meisten davon Hisbollah-Mitglieder. In Israel kamen nach offiziellen Angaben zufolge 48 Menschen durch die Angriffe der proiranischen Miliz ums Leben, darunter Soldaten, aber auch viele Zivilisten.